ii
^r^.M. DOSTOJEWSKI!
DIE BEICHTE STAWROGINS
i|
lUSARION VERLAG/ MÜNCHE]S|
K
F.M.DOSTOJEWSKIJ
DIE BEICHTE STAWROGINS
Die Umschlagszeichnung ist
die Wiedergabe eines Original-
holzschnittes von W. Masjulin
FJODOR DOSTOJEWSKI]
DIE BEICHTE
STAWROGINS
DREI UNVERÖFFENTLICHTE KAPITEL
AUS DEM ROMAN „DIE TEUFEL"
ZUM ERSTENMAL INS DEUTSCHE ÜBER-
TRAGEN UND HERAUSGEGEBEN VON
ALEXANDER ELIASBERG
M U S A R I O N V li: R L A G
MÜNCHEN
1929
PS-
ALLE RECHTE VORBEHALTEN
I0V3 1972
VORWORT
Literaturkennern war es immer bekannt, daß
Dostojewski] in die endgültige Fassung seines
Romans ,,Die Teufel" (von anderen auch ,,Dä-
monen" genannt) ein größeres, aus mehreren
Abschnitten bestehendes Stück nicht aufgenom-
men hatte, und daß sich der Text dieser Kapitel
im Besitze der Witwe des Dichters befand. Ein
kleines Stuck der in ihrem Besitz befindlichen
Abschrift (den Seiten 12, Zeile 10 bis Seite 33,
Zeile 18 der vorliegenden Ausgabe entsprechend,
von ,, Gegen halb elf erreichte er das Tor" bis:
,,Tichon las also folgendes" ) hatte dieWitwe im
VIII. Band der Jubiläumsausgabe der Werke
(Petersburg, 1906) veröffentlicht, und aus die-
ser Ausgabe wurde es auch in den Nachtrag der
deutschen Ausgabe ( Piper )übernommen. Sonst
gewährte aber die Witwe auch Forschern kei-
nen Einblick in das Manuskript.
Heute, wo sich Dostojewskijs Geburtstag
zum hundertstenmal gejährt hat und die Witwe
5
schon tot ist, zogen die russischen Behörden
das geheimnisvolle Roman f rag ment ans Licht.
Am 12. November 1921 wurde im Moskauer
Zentral-Staatsarchiv eine Kiste mit Papieren
Dostojewskijs geöffnet, und in dieser fand sich
u.a. ein Notizbuch mit fünfzehn eingeklebten
Korrekturfahnen zum Roman ,,Die Teufel',
von denenwir zwei(den Seiten 11 /12und6äi 66
der vorliegenden Ausgabe entsprechend) in Re-
produktion bringen. Die Fahnen waren für den
Abdruck des Romans in der Monatsschrift,,Rus-
sischerBote" in den Jahren 1871—72 bestimmt,
aber aus unbekanntem Grunde nicht zum Ab-
druck gebracht. Es wird angenommen, dafS der
Redakteur dieser Zeitschrift, der bekannte Sla-
wophile Katkow, gegen die Veröffentlichung
war. Die Verwaltung des Zentral-Staatsarchivs
hat nun den Text dieser Korrekturfahnen (Mos-
kau, 1922) veröffentlicht, und auf dieser Pu-
plikation beruht auch unsere Ausgabe.
Außer in den Korrekturfahnen existieren
diese Kapitel auch noch in einem Manuskript
von der Hand der Witwe des Dichters, das jetzt
im Puschkinhause der Russischen Akademie der
Wissenschaften zu Petersburg verwahrt wird.
Dieses Manuskript, aus dem dieWitwe das schon
erwähnte Bruchstück in der Jubiläumsausgabe
6
von 1906 veröffentlicht hat, scheint die ur-
sprüngliche Fassung darzustellen und den Mos-
kauer Korrekturfahnen zugrundezuliegen; ein
Original von der Hand Dostojewskijs ist nicht
erhalten geblieben.
Die Petersburger und die Moskauer Fassung
weichen nicht unerheblich voneinander ab.
So enthält z.B. die erstere den großen mit ,15'
bis ,16' bezeichneten Passus auf Seite 12, Zeile 10
bis Seite 33, Zeile 18, der in den Moskauer Fah-
nen fehlt; dagegen fehlt im Petersburger Ma-
nuskript die ganze Episode mit dem Diebstahl
beim Beamten (Seite W, Zeile 6 von unten bis
Seite U3, Zeile 2).
Der Moskauer Veröffentlichung entnahmen
wir auch die wichtigsten Korrekturen Dosto-
jewskijs und den im II. Teil des Anhangs wie-
dergegebenen Aufsatz W . Fritsches.
München, den 2. April 1922.
A. E.
DIE BEICHTE ST AWROGINS
ERSTES KAPlTELi
Bei T i c h o 11
I
Nikolai Wsewolodowitsch schlief diese ganze
Nacht nicht, sondern saß auf dem Sofa, den un-
beweglichen Blick auf einen Punkt in der Ecke
neben der Kommode gerichtet. Die ganze Nacht
brannte bei ihm die Lampe. Gegen sieben Uhr
morgens schlief er im Sitzen ein, und als Alexej
Jegorowitsch nach der ein für allemal einge-
führten Sittejjm punkt halb zehn Uhr mit einer
Tasse Morgenkaffee bei ihm eintrat und ihn
durch sein Erscheinen weckte, schien er, als er
die Augen geöffnet, unangenehm erstaunt, daß
er so lange hatte schlafen können, und daß es
schon so spät sei. Er trank schnell den Kaffee,
kleidete sich schnell an und verließ eilig das
Haus. Auf die vorsichtige Frage Alexej Jego-
rowitschs, ,,ob er nicht irgendwelche Befehle
hätte," gab er keine Antwort. Er ging durch die
Straße, zu Boden blickend, tief nachdenklich
II
und hob nur ab und zu den Kopf und zeigte eine
unbestimmte, aber sehr große Unruhe. An einer
Straßenecke, nichtweit von seinem Hause, durch-
kreuzte eine Gesellschaft von Bauern, etwa
fünfzig Mann oder sogar noch mehr, seinen
Weg ; sie gingen fast schweigend, in auffallen-
der Ordnung. Neben dem Laden, wo er eine
Weile warten mußte, sagte jemand, es seien
,,die Schpigulinschen Arbeiter". Er schenkte
ihnen kaum Beachtung. Endlich gegen halb elf
erreichte er das Tor des Spasso- Jef im j ewschen
Muttergottesklosters, am Flußufer, am Rande
der Stadt. Erst jetzt schien er sich plötzlich auf
etwas zu besinnen, auf etwas Beunruhigendes
und Schwieriges; er blieb stehen, betastete et-
was in seiner Seitentasche und lächelte. Als er
in die Klosterumfriedung eingetreten war, fragte
er den ersten besten Klosterdiener, auf den er
stieß, wie er zu dem in diesem Kloster im Ruhe-
stande lebenden Bischof Tichon gelangen könne.
Der Diener übernahm unter vielen Verbeugun-
gen sofort die Führung. An der Treppe am Ende
des langen zweistöckigen Klostergebäudes nahm
ihn dem Diener schnell und gebieterisch ein
dicker grauhaariger Mönch ab, der ihn durch
einen langen, schmalen Korridor führte, eben-
falls unter fortwährenden Verbeugungen (ob-
12
wohl er infolge seiner Dicke sich nicht tief ver-
beugen konnte, sondern nur oft und schnell mit
dem Kopf nickte), ihn immer wieder aufforr
dernd, ihm zu folgen, obwohl Nikolai Wsewo-
lodowitsch ihm auch ohnehin folgte. Der Mönch
stellte irgendwelche Fragen und sprach vom P .
Archimandriten ; da er keine Antwort erhielt,
wurde er immer ehrerbietiger. Stawrogin
merkte, daß ihn hier alle kannten, obwohl er, so-
weit er sich erinnerte, nur als Kind hier gewesen
war. Als sie die Tür ganz am Ende des Korridors
erreichten, stieß sie der Mönch mit einer her-
rischen Gebärde auf, erkundigte sich familiär
bei dem herbeigeeilten Zellendiener, ob man
eintreten dürfe, machte dann, ohne eine Ant-
wort abzuwarten, die Tür weit auf und ließ
unter einer Verbeugung den ,, lieben" Gast ein-
treten; als jener sich bedankt hatte, verschwand
er schnell, wie fluchtartig. Nikolai Wsewolo-
dowitsch trat in ein kleines Zimmer, und fast
im gleichen Augenblick erschien ein großer, ha-
gerer Mann von etwa fünfundfünfzig Jahren
in einer einfachen Soutane, dem Aussehen nach
kränklich, mit einem unbestimmten Lächeln
und einem seltsamen, gleichsam schüchternen
Blick. Das war jener Tichon, von dem Niko-
lai Wsewolodowitsch zum erstenmal von Scha-
i3
low gehört, und über den er seitdem auch selbst
nebenbei einige Auskünfte eingezogen hatte.
Die Auskünfte waren verschieden und sogar
einander widersprechend, hatten aber alle auch
etwas gemeinsames, nämlich, daß alle, die
Tichon liebten und auch die ihn nicht liebten
(denn es gab auch solche), sich über ihn irgend-
wie ausschwiegen; die Nichtliebenden wohl aus
I Geringschätzung, die Anhänger aber und selbst
j die glühendsten unter ihnen aus Bescheidenheit,
j als wollten sie etwas verheimlichen, irgendeine
] Schwäche von ihm, vielleicht, daß er einen
^ Narren in Christo spiele. Nikolai Wsewolodo-
witsch erfuhr, daß er schon seit etwa sechs
Jahren im Kloster lebte und wie von Leuten aus
den einfachsten Ständen, so auch von den vor-
nehmsten Personen besucht werde; daß er
selbst im fernen Petersburg glühende Verehrer
und vorwiegend Verehrerinnen habe. Dafür be-
kam er auch von einem unserer sich vornehm ge-
bärdenden ,, Klubgreise", sogar einem frommen
Greise, zu hören, daß ,, dieser Tichon so gut wie
verrück t^ sei und zweifellos trinke". Ich füge vor-
ausgreifend hinzu, daß das letztere absoluter
Unsinn ist; wahr ist nur, daß er eine veraltete
rheumatische Krankheit in den Füßen und zeit-
weise nervöse Zuckungen hatte. Nikolai Wsewo-
i4
lodowitsch hatte auch erfahren, daß der im Klo-
ster im Ruhestande lebende Bischof infolge Cha-
rakterschwäche oder einer ,,bei seinem Range
unverzeihlichen und unpassendenZerstreutheit"
es nicht verstanden habe, im Kloster selbst
einen besonderen Respekt vor sich zu wecken.
Man sagte, daß der P. Archimandrit, ein rauher
und in seinen Pflichten sehr strenger, außer-
dem wegen seiner Gelehrsamkeit berühmter
Mann, ein gewisses feindseliges Gefühl gegen
ihn hegte und ihm sogar (nicht offen, sondern
indirekt) ein nachlässiges Leben und beinahe
sogar Ketzerei vorwerfe. Die Klosterbrüder-
schaft verhielt sich aber zum kranken Bischof
nicht gerade nachlässig, aber sozusagen fami-
liär. Die beiden Zimmer, die die Zelle Tichons
bildeten, waren gleichfalls sonderbar ausgestat-
tet. Neben klotzigen altertümlichen Möbeln mit
durchgewetzten Ledersitzen standen auch meh-
rere höchst elegante Gegenstände : ein prunk-
voller bequemer Lehnsessel, ein großer Schreib-
tisch von vortrefflicher yVrbeit, ein schöner ge-
schnitzter Bücherschrank, Tischchen, Etageren,
natürlich lauter Geschenke. Es gab auch einen
kostbaren bucharischen Teppich, daneben aber
auch einfache Matten. An den Wänden hingen
Stiche ,, weltlichen" Inhalts, auch mit mjtho-
i5
logischen Sujets, gleich daneben aber stand in
der Ecke ein großer Schrein mit gold- und
silberfunkelnden Heiligenbildern, darunter ei-
nem sehr alten mit eingeschlossenen Reliquien.
Man sagte, daß auch seine Bibliothek allzu bunt
und widerspruchsvoll zusammengestellt sei:
neben den Werken der großen Kirchenlehrer
und Helden der Christenheit befanden sich da-
rin auch ,, Theaterstücke und Romane, viel-
leicht sogar noch viel schlimmere Sachen".
Nach den ersten Begrüßungsw^orten, die aus
irgendeinem Grunde mit einer beiderseitigen
Verlegenheit, schnell und sogar kaum verständ-
lich gesprochen worden waren, führte Tichon
den Gast in sein Kabinett, setzte ihn aufs Sofa
vor dem Tisch und nahm selbst in einem ge-
flochtenen Sessel daneben Platz 3. Seltsamer-
weise verlor hier Nikolai Wsewolodowitsch jede
Fassung. Es sah so aus, als gebe er sich die
größte Mühe, sich zu etwas Außergewöhnlichem
und Unwiderlegbarem, dabei aber für ihn fast
Unmöglichem zu entschließen. Er ließ seinen
Blick etwa eine Minute im Kabinett schweifen,
offenbar ohne etwas zu sehen ; er wurde nach-
denklich, w^ußte aber vielleicht selbst nicht, wo-
ran er dachte. Ihn weckte die Stille, und es
kam ihm plötzlich vor, als schlage Tichon die
i6
Augen wie vor Scham mit einem eigentümlichen,
ganz überflüssigen Lächeln nieder. Dies rief
in ihm sofort Abscheu und Protest hervor; er
wollte aufstehen und weggehen; er war über-
zeugt, Tichon sei betrunken. Jener erhob aber
plötzlich die Augen und sah ihn mit einem so
festen und gedankenvollen Blick, zugleich aber
mit einem so unerwarteten und rätselhaften
Ausdruck an, daß er fast zusammenfuhr. Da
hatte er plötzlich einen ganz anderen Eindruck :
daß Tichon schon wisse, wozu er gekommen
sei, daß er schon darauf vorbereitet sei (ob-
wohl kein Mensch in der Welt den Grund wis-
sen konnte), und daß er nur darum nicht als
erster zu sprechen anfange, weil er ihn schone
und ihn zu erniedrigen fürchte.
„Sie kennen mich?" fragte er plötzlich kurz.
„Ich weiß nicht, ob ich mich beim Eintreten
vorgestellt habe. Entschuldigen Sie, ich bin so
zerstreut. . ."
,,Sie haben sich nicht vorgestellt, aber ich
habe schon einmal vor vier Jahren das Ver-
gnügen gehabt, Sie hier in diesem Kloster zu
seheii . . . zufällig."
Tichon sprach sehr langsam und gleichmäßig,
mit einer weichen Stimme, und artikuherte die
Worte klar und deutlich.
a 17
,,Ich bin nicht vor vier Jahren hier im Klo-
ster gewesen", entgegnete Nikolai Wsewolodo-
witsch mit einer ganz unnötigen Grobheit. ,,lch
bin hier nur als Kind gewesen, als Sie noch gar
nicht hier w^aren."
,, Vielleicht haben Sie es vergessen?" fragte
Tichon vorsichtig und ohne darauf zu bestehen.
,,Nein, ich habe es nicht vergessen; und es
wäre auch lächerlich, wenn ich mich dessen
nicht mehr erinnerte," bestand Stawrogin mit
übertriebenem Trotz auf dem seinen. ,, Viel-
leicht haben Sie von mir nur gehört und sich
dann irgendeine Meinung über mich gebildet
und glauben darum, daß Sie inich gesehen
haben."
Tichon sagte darauf nichts. Nikolai Wsewo-
lodowitsch merkte jetzt, daß über sein Gesicht
zuweilen ein nervöses Zucken lief, das Zeichen
einer veralteten Nervenschwäche.
,,Ich sehe nur, daß Sie heute nicht ganz wohl
sind," sagte er, ,,und daß es besser wäre, wenn
ich wegginge."
Er erhob sich sogar von seinem Platz.
„Ja, ich fühle heute wie auch gestern einen
heftigen Schmerz in den Beinen und habe nachts
sehr wenig geschlafen ..."
Tichon hielt inne. Sein Gast verfiel plötz-
i8
lieh in eine eigentümliche Nachdenklichkeit.
Das Schweigen dauerte lange, vielleicht zwei
Minuten.
,, Haben Sie mich eben beobachtet?" fragte
er plötzlich unruhig und argwöhnisch.
,,Ich sah Sie an und erinnerte mich dabei
der Gesichtszüge Ihrer Frau Mutter. Bei aller
äußeren Unähnlichkeit ist doch viel innere, gei-
stige Ähnlichkeit vorhanden."
„Nicht die geringste Ähnlichkeit, am aller-
wenigsten eine geistige. Überhaupt keine !" regte
sich Nikolai Wsewolodowitsch ganz unnötiger
Weise auf; er wußte selbst nicht, warum er so
heftig widersprach. ,,Sie sagen es bloß . . . aus
Mitleid mit mir und meiner Lage!" platzte er
plötzlich heraus. ,,Ach! Kommt denn meine
Mutter zu Ihnen?"
„Ja."
,,Das habe ich nicht gewußt. Habe es von
ihr nie gehört. Kommt sie oft her?"
,,Fast jeden Monat und auch öfter."
,,Das habe ich wirklich niemals gehört. Nie-
mals gehört! ..." Er schien durch diese Tat-
sache furchtbar beunruhigt. ,,Sie haben aber
natürlich von ihr gehört, daß ich verrückt
bin?" platzte er wieder heraus.
,,Nein, ich habe nichts von Verrücktheit ge-
a* 19
hört. Wohl aber von dieser Ansicht, doch nicht
von ihr, sondern von anderen."
,,Sie haben also ein gutes Gedächtnis, wenn
Sie sich solchen Unsinn gemerkt haben. Haben
Sie auch das von der Ohrfeige gehört?"
,, Etwas habe ich wohl gehört."
,,Das heißt alles. Sie haben furchtbar viel
Zeit, um sich das alles zu merken. Auch das
vom Duell?*"
„Auch vom Duell."
,,Da sind wirklich die Zeitungen überflüssig.
Hat Schatq\y Sie auf mein Kommen vorbe-
reitet?"
,,Nein. Ich kenne übrigens_Herrn Schatow,
habe ihn aber schon seit langem nicht gesehen."
„Hm . . . Was haben Sie hier für eine Karte?
Ach, es ist doch die Karte des letzten Krieges!
Was brauchen Sie sie?"
„Ich habe die Landkarte mit dem Text ver-
glichen . Eine überaus in teressante Schilderung . ' '
,, Zeigen Sie her. Ja, die Schilderung ist nicht
schlecht. Es ist aber eine sonderbare Lektüre
für Sie."
Er rückte das Buch zu sich heran und blickte
flüjglitig hinein. Es war eine umfangreiche und
talentvolle Schilderung der Umstände des letz-
ten Krieges, talentvoll übrigens weniger in mili-
20
tärischer als in rein literarischer Beziehung. Er
hielt das Buch eine Weile in den Händen und
warf es plötzlich mit Ungeduld weg.
„Ich weiß absolut nicht, wozu ich hergekom-
men bin!" sagte er wie angeekelt, Tichon ge-
rade in die Augen blickend, als erwartete er
von ihm eine Antwort.
„Sie scheinen auch nicht ganz wohl zu sein."
,,Ja, vielleicht."
Und er erzählte plötzlich, übrigens nur in
wenigen abgerissenen Worten, so daß man eini-
ges schwer verstehen konnte, daß er zuweüenj
besonders nachts an gewissen Halluzinationen
leide, daß er an seiner Seite manchmal irgend-
ein boshaftes, spöttisches und ,, vernünftiges"
Wesen sehe oder fühle: ,,in verschiedenen Ge-
stalten und von verschiedenem Charakter, aber
immer ein und dasselbe, ich ärgere mich aber !"
Wild und verworren waren diese Erklärun-
gen und schienen wirklich von einemVerrückten
zu kommen. Nikolai Wsewolodowitsch sprach
aber dabei mit einer so sonderbaren Aufrichtig-
keit, die man an ihm noch niemals wahrgenom-
men, mit einer solchen, ihm sonst so gar nicht
eigenen ßinfalt, daß der frühere Mensch in ihm
plötzlich und unversehens verschwunden zu sein
schien. Er schämte sich gar nicht, das Entap.t/.en,
21
zu zeigen, mit dem er von seiner Vision sprach.
Aber all das war nur augenblicklich und ver-
schwand ebenso schnell, wie es gekommen war.
,,Das ist alles Unsinn", unterbrach er sich
schnell mit verlegenerji Ärger. ,,lch will zu
einem Arzt gehen."
,, Gehen Sie unbedingt hin ",bestätigieTichon.
,,Sie sagen es so bestimmt . . . Haben Sie schon
solche Menschen wie mich gesehen, die solche
Visionen haben?"
„Ich habe wohl welche gesehen, aber selten.
Ich besinne mich auf einen einzigen Fall in
meinem Leben, es war ein Offizier, der nach
dem Tode seiner Frau, der für ihn unersetz-
lichen Lebensgefährtin, dasselbe hatte. Den an-
deren Fall kenne ich nur vom Hörensagen. Beide
ließen sich dann im Auslande behandeln^. . . .
Leiden Sie schon lange daran?"
,,Seit etwa einem Jahr, aber das alles ist Un-
sinn. Ich werde zum Arzt gehen. Es ist Un-
sinn, furchtbarer Unsinn. Das bin nur ich selbst
in verschiedenen Gestalten und weiter nichts.
Da ich soeben diese . . . Phrase hinzugefügt
habe, so glauben Sie sicher, daß ich immer noch
zweifle und nicht ganz davon überzeugt bin,
daß ich es bin und nicht wirklich der Teufel."
Tichon sah ilin fragend an.
22
,,Uncl . . . Sie sehen ihn wirklich?" fragte er,
jeden Zweifel ausschaltend, daß es eine trü-_
^erischfi- .Jund krankhafte Halluzination sei,
,, sehen Sie wirklich irgendeine Gestalt?"
,, Merkwürdig, daß Sie darauf bestehen, wäh-
rend ich Ihnen schon gesagt habe, daß ich eine
sehe", sagte Stawrogin, der nach jedem Wort
noch mehr gereizt war. ,, Natürlich sehe ich ihn,
ich sehe ihn, so wie ich jetzt Sie sehe . . . manch-
mal sehe ich ihn aber und bin dabei nicht über-
zeugt, daß ich ihn sehe, obwohl ich ihn wirk-
lich sehe . . . manchmal weiß ich auch nicht,
was wirklich ist: ich oder er . . . All das ist Un-
sinn. Können Sie denn unmöglich annelmi^ftr
daß es in Wirklichkeit der Teufel ist!" fügte
er lachend hinzu, allzu schnell in einen spöt-
tischen Ton verfallend;,, Das würde ja zu Ihrem
Metier besser passen,"
,,Am wahrscheinlichsten ist es eine Krank-
heit, obwohl ..."
,,Was, obwohl?"
,, Teufel existieren zweifellos, aber die.jlui»-
fassung.von ihnen kann sehr verschieden sein."
,, Sie haben eben Ihren Blick gesenkt", fiel
ihm Stawrogin mit einem gereizten Lächeln ins
Wort, ,,da Sie sich für mich schämten, weil
ich an den Teufel glaube, Ihnen aber unter Yor-
23
Spiegelung, daß ich an ihn nicht glaube, die
listige Frage stelle, ob er in Wirklichkeit exi-
stiert?"
Tichon lächelte unbestimmt. ^
,, Hören Sie also: ich schäme mich gar nicht,
und um Ihre Grobheit heimzuzahlen, will ich
Ihnen ersthaft und frech sagen: ich glaube an
den Teufel, ich glaube an ihn kanonisch, an
den persönlichen Teufel, nicht an die Allegorie,
und ich brauche niemand auszuforschen; da
haben Sie alles. ^"
Er lachte nervös und unnatürlich auf. Tichon
sah ihn neugierig an, mit einem etwas scheuen,
wenn auch milden Blick.
,, Glauben Sie an Gott?" platzte plötzlich Ni-
kolai Wsewolodowitsch heraus.
„Ich glaube!"
,,Es steht doch geschrieben, wenn du glaubst
und dem Berge befiehlst, von der Stelle zu
rücken, so wird er von der Stelle rücken . . .
entschuldigen Sie übrigens den Unsinn. Aber
ich möchte Sie dennoch fragen: werden Sie
einen Berg versetzen können oder nicht?"
„Wenn Gott es befiehlt, werde ich ihn ver-
setzen", sagte Tichon leise und zurückhaltend
und fing an, seinen Blick wieder zu senken.
,,Nun, das ist ja dasselbe, wie wenn ihn Gott
24
selbst versetzte. Nein, Sie, Sie selbst zum Lohne
für Ihren Glauben an Gott?"
„Vielleicht versetze ich ihn."
,,,Vielleicht'?äNun,auchdas ist nicht schlecht.
Sie zw^eifeln übrigens immer noch?"
„Infolge derUnvollkomnißiihßit meines Glau-
bens zweifle ich."
,,Wie, auch Ihr Glaube ist unvollkommen?"
,,Ja . . . vielleicht ist er auch unvollkommen",
antwortete Tichon.
,,Das kann man Ihnen unmöglich ansehen 1"
Er musterte ihn plötzlich mit einem geradezu
naiven Erstaunen, was mit dem spöttischen Ton
der vorhergehenden Fragen gar nicht harmo-
nierte.
,,rVber Sie glauben immerhin, daß Sie, wenn
auch mit Gottes Hilfe, den Berg versetzen wer-
den, und das ist nicht wenig. Jedenfalls wollen
Sie glauben. Auch den Berg fassen Sie buchstäb-
lich auf. Das ist ein gutes Prinzip. Ich habe be-
merkt, daß die Führenden unter unseren Leviten
stark dem Luthertum zuneigen. Das ist immerhin
mehr als das ,tres peu' eines Erzbischofs, das
allerdings unter einem Säbel gesprochen wor-
den war. Sie sind natürlich auch Christ."
Stawrogin sprach schnell, die Worte fielen bald
ernsthaft, bald spöttisch.
25
,, Deines Kreuzes, Herr, werde ich mich nicht
schämen", versetzte Tichon in einem sonder-
baren, leidenschaftHchen Flüsterton, den Kopf
noch tiefer senkend.^
,,Kann man an den Teufel glauben, ohne an
Gott zu glauben?" fragte Stawrogin lachend.
,,Das kann man sogar sehr, man sieht es auf
Schritt und Tritt." Tichon hob die Augen und
lächelte.
,,lch bin auch überzeugt, daß Sie^einen sol-
chen Glauben immerhin für ehrenwerter halten
als den völligen Unglauben . . .^^" rief Staw-
rogin und lachte auf.
,,Im Gegenteil, vollständiger Atheismus ist
ehrenwerter als die weltliche Gleichgültigkeit",
antwortete Tichon scheinbar heiter und treu-
herzig.
,,Oho, so denken Sie!"
,,Der vollkommene Atheist steht auf der vor-
letzten höchsten Stufe vor dein vollständigen
Glauben (ganz gleich, ob er den Schritt tut oder
nicht), der Gleichgültige hat aber gar keinen
Glauben mehr, nur eine üble Angst, und auch
die nur ab und zu, wenn er ein gefühlvoller
Mensch ist."
,,Hm . . . Haben Sie die Apokalypse gelesen?"
,, Gewiß."
36
„Erinnern Sie sich an die Stelle : ,Und schreibe
dem Engel der Gemeinde zu Laodicea . . .'?"
„Gewiß. "11
,, Wo haben Sie das Buch?" Stawrogin wurde
auf einmal seltsam ungeduldig und aufgeregt
und suchte das Buch mit den Augen auf dem
Tisch. ,,Ich möchte es Ihnen vorlesen . . . haben
Sie eine russische Übersetzung?"
,,Ich kenne die Stelle", sagte Tichon.
„Kennen Sie sie auswendig? Sagen Sie sie ... "
Er senkte schnell die Augen, drückte beide
Hände gegen die Knie und wartete mit Unge-
duld. Tichon zitierte wörtlich:
,,Und schreibe dem Engel der Gemeinde zu
Laodicea: Also spricht Amen, der treue und
wahrhaftige Zeuge, der Anfang der Kreatur
Gottes: ich kenne deine Werke, daß du weder
kalt, noch warm bist. Ach, daß du kalt oder
warm wärest! Weil du aber nur lau bist, und
weder kalt noch warm, werde ich dich aus-
speien aus meinem Munde. Du sprichst: Ich
bin reich, bin gar satt und bedarf nichts, und
weißt doch nicht, daß du elend bist und jäm-
merlich, arm, blind und bloß ..."
,, Genug", unterbrach ihn Stawrogin. i^^^Wis-
sen Sie, ich liebe Sie sehr."
„Und ich Sie", antwortete Tichon halblaut.
27
Stawrogin verstummte und versank plötzlich
in seine frühere Nachdenklichkeit. Das kam wie
ein Anfall schon zum drittenmal. Auch das
,,ich liebe Sie" hatte er zu Tichon wie in einem
Anfall gesagt, jedenfalls ganz unerwartet für
sich selbst. Es verging mehr als eine Minute.
,, Zürnen Sie nicht", flüsterte Tichon, seinen
Ellenbogen ganz leise mit dem Finger berüh-
rend, beinahe schüchtern.
Jener fuhr zusammen und runzelte böse die
Brauen.
,, Woran erkannten Sie, daß ich zürne?"
fragte er schnell. Tichon wollte etwas erwidern,
aber er unterbrach ihn plötzlich in unbegreif-
licher Erregung.
,, Warum haben Sie angenommen, daß ich
unbedingt zürnen müsse? ! Ja, ich war wohl
böse geworden, Sie haben recht, und zwar ge-
rade weil ich Ihnen gesagt habe, daß ich Sie
liebe. Sie haben Recht, aber Sie sind ein roher
Zyniker, Sie denken niedrig von der mensch-
lichen Natur. Es hätte auch kein Zorn sein
können, wenn an meiner Stelle ein anderer
Mensch wäre . . . Die Rede ist übrigens nicht
vom andern Menschen, sondern von mir.
Sie sind immerhin ein Kauz und ein JNarr in
Christo ..."
28
Er regte sich immer mehr auf und kümmerte
sich seltsamerweise gar nicht um die Wahl der
Worte :
,, Hören Sie: ich kann Spione und Psycho-
logen nicht leiden, jedenfalls solche nicht, die
mir in die Seele dringen. Ich fordere niemand
auf, mir in die Seele einzudringen, ich brauche
niemand, ich werde mir auch selbst zu helfen
wissen. Sie glauben, daß ich Sie fürchte", sagte
er, die Stimme erhebend und ihn herausfor-
dernd ansehend: ,,Sie sind vollkommen davon
überzeugt, daß ich gekommen bin, um Ihnen
ein »schreckliches' Geheimnis zu eröffnen, und
warten darauf mit der ganzen klösterlichen Neu-
gier, deren Sie fähig sind. Hören Sie also: ich
werde Ihnen nichts eröffnen, gar keine Ge-
heimnisse, denn ich kann mich ausgezeichnet
auch ohne Sie behelfen ..."
Tichon sah ihm fest ins Gesicht.
,,Es hat Sie erschüttert, daß das Lamm den
Kalten dem Lauen vorzieht", sagte er. ,,Sie
wollen nicht nur lau sein. Ich ahne, daß Sie
von einer außerordentlichen, vielleicht entsetz-
lichen Absicht besessen sind. Ich flehe Sie an,
quälen Sie sich nicht und sagen Sie alles. *^
,, Haben Sie denn genau gewußt, daß ich mit
irgendetwas gekommen bin?"
29
,,Ich . . . ich habe es" erraten", flüsterte Ti-
chon, die Augen senkend.
Nikolai Wsewolodowitsch war etwas blaß,
seine Hände zitterten ein wenig. Einige Sekun-
den blickte er unbeweglich und stumni, als
fasse er einen endgültigen Entschluß. Schließ-
lich zog er aus der Seitentasche seines Rockes
irgendwelche bedruckte Blätter und legte sie
auf den Tisch.
,, Diese Blätter sind zur Veröffentlichung
bestimmt", sagte er mit stockender Stimme.
,,Wenn sie auch nur ein Mensch liest, so kön-
nen Sie versichert sein, daß ich sie nicht mehr
verbergen werde, und daß alle sie lesen werden.
Ich bedarf Ihrer nicht, gar nicht, denn ich habe
schon alles beschlossen. Aber lesen Sie es . . .
Während Sie es lesen, sagen Sie nichts, und
wenn Sie es gelesen haben, sagen Sie alles ..."
,,Soll ich es lesen?" fragte Tichon zögernd.
,, Lesen Sie, ich bin ruhig."
,,Nein, ohne Brille kann ich es nicht entzif-
fern, der Druck ist zu klein, wohl ausländisch."
,,Hier ist die Brille!" Stawrogin reichte sie
ihm vom Tisch und warf sich in die Sofalehne
zurück. Tichon sah ihn nicht an und versenkte
sich in die Lektüre.
3o
II
Es war tatsächlich ausländischer Druck - drei
bedruckte und zusammengeheftete Blättchen
gewöhnlichen Briefpapiers in kleinem Format.
Es war wohl in irgendeiner geheimen russischen
Druckerei im Auslande gedruckt, und die Blätt-
chen glichen auf den ersten Blick einer Pro-
klamation. Als Überschrift stand: ,,Von Staw-
rogin".
Dieses Dokument nehme ich in meine Chro-
nik unverändert auf.^* Ich erlaubte mir nur,
die orthographischen Fehler zu korrigieren, die
ziemlich zahlreich waren und mich sogar in
einiges Erstaunen versetzten, da der Autor im-
merhin ein gebildeter und sogar belesener
Mensch war (natürlich nur relativ). Im Stile
änderte ich dagegen nichts, trotz einiger Un-
regelmäßigkeiten. Jedenfalls ist es klar, daß der
Autor vor allen Dingen kein Literat ist.
1"' Ich erlaube mir noch eine Bemerkung, ob-
wohl ich damit vorausgreife. Dieses Dokument
ist meiner Ansicht nach eine krankhafte Sache,
ein Werk des Teufels, der sich dieses Herrn be-
mächtigt hat. Man denkt an einen Menschen, der
sich, von einem stechenden Schmerz gepeinigt,
im Bette hin- und herwälzt, bemüht, eine Lage
zu finden, in der er wenigstens für einen Augen-
3i
blick Erleichterung finden könnte. Dabei ist es
ihm natürlich nicht um die Schönheit oder Yer-
nünf tigkeit dieser Lage zu tun. Der Grundge-
danke des Dokuments ist ein schreckliches, un-
geheucheltes Bedürfnis nach einer Strafe, nach
dem Kreuz, nach einer öffentlichen Hinrich-
tung. Und dieses Verlangen nach dem Kreuz
empfindet ein Mensch, der an das Kreuz nicht
glaubt, und schon das allein stellt eine ,,Idee"
dar, wie sich Stepan Trofimowitsch einmal,
übrigens bei anderer Gelegenheit, ausgedrückt
hat. Andererseits ist dieses ganze Dokument et-
was Rasendes und Wahnwitziges, obwohl es an-
scheinend mit einer anderen Absicht abgefaßt
worden ist. Der Autor erklärt, daß es ihm un-
möglich gewesen sei, es nicht zu schreiben, daß
er dazu „gezwungen" worden sei, und das
klingt recht wahrscheinlich : er wäre froh, die-
sen Kelch nicht zu trinken, wenn er es könnte,
aber es war ihm anscheinend in der Tat nicht
möglich, sich die Gelegenheit zu einer neuen
Raserei entgehen zu lassen. Ja, der Kranke wälzt
sich auf seinem Lager hin und her und will den
einen Schmerz durch einen anderen ersetzen;
der Kampf gegen die Gesellschaft erschien ihm
als die leichteste Lage, und so wirft er ihr die
Herausf orderung j:u^
Und in der Tat: schon die Tatsache dieses
Dokuments läßt eine neue unerwartete und
unverzeihUche Herausforderung an die Ge-
sellschaft ahnen. Es ist das Verlangen, so
bald als möglich auf irgendeinen Feind zu
stoßen.
Wer weiß : vielleicht sind diese zur Veröffent-
lichung bestimmten Blätter nichts anderes als
,,das gebissene Gouverneursohrs", nur in einer
anderen Form. Warum es jetzt, wo vieles sich
schon geklärt hat, sogar mir in den Sinn kommt,
vermag ich nicht zu erklären. Ich führe auch
keine Beweise an und behaupte durchaus nicht,
daß das Dokument gefälscht, d. h. vollkommen
aus der Luft gegriffen und frei erfunden sei.
Die Wahrheit wird am ehesten in der Mitte lie-
gen. Ich habe aber schon zu weit vorgegriffen;
richtiger wäre es, zum Dokument selbst zurück-
zukehren. Tichon las also folgendes :^^
Von Stawrogin.
Ich, Nikolai Stawrogin, Offizier a.D., lebte
im Jahre i86* in Petersburg, der Unzucht er-
geben, in der ich keinen Genuß fand. Eine Zeit-
lang hatte ich drei Wohnungen. In der einen,
die ich möbliert, mit Verpflegung und Bedie-
nung mietete, wohnte ich selbst ; in dieser wohnte
auch Mar ja Lebjadkina, meine jetzige legitime
3 33
Gattin. Die anderen Wohnungen hielt ich mir
monatlich für meine Intrigen: in der einen
empfing ich eine Dame, die mich liebte, und in
der anderen ihr Dienstmädchen; eine Zeitlang
beschäftigte mich sehr der Plan, die beiden zu-
sammenzuführen, so daß die Dame und die Dirne
sich bei mir" begegneten. Da ich die Charak-
tere der beiden kannte, erwartete ich von diesem
Scherz ein großes Vergnügen.
Als ich auf diese Begegnung nach und nach
hinarbeitete, mußte ich eine dieser beiden Woh-
nungen, die sich in einem großen Hause in der
Gorochowaja befand, öfter aufsuchen, da das
Dienstmädchen hierher zu kommen pflegte.
Hier hatte ich nur ein Zimmer im vierten Stock,
das ich bei einer russischen Kleinbürgersfamilie
mietete. Die Leute selbst wohnten nebenan im
anderen Zimmer, das so eng war, daß die Tür
zwischen den beiden Zimmern immer offen
stand, und das war mir gerade erwünscht. Der
Mann war in irgendeinem Kontor angestellt und
vom Morgen bis zum Abend nicht zu Hause. Die
Frau, eine etwa vierzigjährige Person, schnitt
etwas zu und nähte alte Sachen zu neuen um;
auch sie ging oft aus dem Hause, um ihre Näh-
arbeit abzuliefern. Ich blieb dann allein mit
ihrer 18 Tochter, die noch ganz wie ein Kind
34
aussah, in der Wohnung. Sie hieß Matrjoscha.
Die Mutter hatte sie lieb, schlug sie aber oft und
schrie sie schrecklich an, wie es solche Men-
schen zu tun pflegen. Dieses Mädchen bediente
mich und räumte bei mir hinter der spanischen
Wand auf. Ich erkläre, daß ich die Nummer des
Hauses vergessen habe. Jetzt weiß ich, nach Er-
kundigungen, daß das alte Haus abgebrochen
worden ist, und daß an Stelle von zwei oder
drei alten Häusern ein neues, sehr großes steht.
Ich habe auch den Familiennamen meiner
Kleinbürger vergessen (vielleicht habe ich ihn
auch damals nicht gewußt). Ich erinnere mich
nur, daß dieKleinbürgerinStepanida, ich glaube,
Michailowna hieß. Seiner erinnere ich mich
nicht mehr. Ich denke, daß man, wenn man or-
dentlich suchen und die nötigen Erkundigungen
bei der Petersburger Polizei einziehen wollte,
die Spuren leicht auffinden könnte. Die Woh-
nung befand sich im Hofe, in einer Hausecke.
Dies alles war im Juni. Das Haus war von hell-
blauer Farbe.
Einmal verschwand von meinem Tisch ein
Federmesser, das ich gar nicht brauchte, und
das nur so herumlag. Ich sagte es der Wirtin,
dachte aber dabei nicht im entferntesten, daß
sie die Tochter mit Ruten züchtigen würde.
3* 35
Die Frau hatte aber soeben die Kleine wegen
irgendeines verlorengegangenen Lumpens aus-
geschimpft ^^ und sogar an den Haaren gezerrt,
weil sie sie im Verdacht hatte, ihn gestohlen zu
haben. Als aber dieser selbe Lumpen sich unter
dem Tischtuch fand, wollte die Kleine kein
Wort des Vorwurfes sagen und blickte nur
schweigend vor sich hin. Ich sah es und merkte
mir bei dieser Gelegenheit zum erstenmal or-
dentlich das Gesicht der Kleinen, das ich bis-
her nur flüchtig mit den Blicken gestreift hatte.
Sie war hellblond und hatte viele Sommer-
sprossen, das Gesicht war gewöhnlich, es war
aber viel Kindliches und Stilles, außerordent-
lich Stilles darin. Der Mutter mißfiel es, daß
die Tochter ihr wegen der unverdienten Strafe
kein Wort sagte, und hob über sie die Faust,
schlug sie aber nicht. Da kam gerade die Ge-
schichte mit meinem Federmesser. Die Frau
wurde wütend, weil sie das Kind zuerst unge-
rechterweise geschlagen hatte ; sie lief zum Be-
sen, riß mehrere Ruten heraus und züchtigte
das Mädchen vor meinen Augen so, daß es rote
Striemen bekam, obwohl das Kind schon bei-
nahe zwölf Jahre alt war. Matrjoscha schrie
während der Rutenstrafe nicht, wahrscheinlich,
weil ich zugegen war, schluchzte aber sonder-
36
bar bei jedem Schlage. Dann schluchzte sie
noch eine ganze Stunde später sehr laut.
Vorher hatte sich aber dieses ereignet : im sel-
ben Augenblick, als die Wirtin sich zum Besen
stürzte, um Ruten daraus zu reißen, fand ich
das Federmesser auf meinem Bett, auf das es
irgendwie vom Tische gefallen war. Mir kam
sofort der Gedanke, es ihnen nicht zu sagen,
damit die Kleine ihre Ruten bekomme. Dieser
Entschluß war in mir augenblicklich gereift;
in solchen Fällen stockt mir immer der Atem.
Aber ich will dies alles in bestimmteren Worten
berichten, damit nichts mehr verborgen bleibe.
Jede schändliche, maßlos erniedrigende, ge-
meine und vor allem lächerliche Lage, in der ich
mich in meinem Leben befand, erregte in mir
immer neben einem grenzenlosen Zorn auch
einen grenzenlosen Genuß. Ebenso war es auch
inden Augenblicken, wenn ich einVerbrechenbe-
gingoder mich in Lebensgefahr befand. Hätte ich
etwas gestohlen, so würde ich beim Verüben des
Diebstahls einen Rausch in der Erkenntnis der
Tiefe meiner Gemeinheit empfunden haben.
Ich liebte nicht die Gemeinheit (meineVernunft
blieb dabei immer intakt), aber mir gefiel der
Rausch, den ich im schmerzvollen Bewußtsein
meiner Niedrigkeit fand. Ebenso hatte ich diese
37
selbe schändliche und tolle Empfindung, so oft
ich an der Barriere in der Erwartung des
Schusses eines Gegners stand; einmal war es
ganz besonders stark. Ich gestehe, daß ich die-
ses Gefühl oft selbst suchte, denn es war für
mich stärker als alle ähnlichen. Wenn ich eine
Ohrfeige bekam (ich bin in meinem Leben
zweimal geohrfeigt worden), so hatte ich auch
dann, trotz des schrecklichen Zornes, dasselbe
Gefühl. Wenn ich aber dabei den Zorn zurück-
hielt, so übertraf der Genuß alles, was man sich
vorstellen kann. Ich habe es noch keinem Men-
schen erzählt, selbst andeutungsweise nicht,
habe es immer als eine Schmachund Schande ver-
heimlicht. Als man mich einmal in einer Peters-
burger Kneipe fürchterlich prügelte und an den
Haaren herumzerrte, hatte ich dieses Gefühl
nicht, sondern empfand nur, ohne betrunken
zu sein, eine maßlose Wut und wehrte mich
gegen die Schläge. Hätte mich aber im Aus-
lande jener französische Yicomte, der mich
einmal geohrfeigt hat, und dem ich dafür den
Unterkiefer weggeschossen habe, bei den Haa-
ren gepackt und niedergedrückt, so würde ich
einen berauschenden Genuß und dabei vielleicht
gar keinen Zorn empfunden haben. So schien
mir damals.
38
Das alles sage ich, damit jedermann wisse,
daß dieses Gefühl mich niemals ganz gefangen
nahm, und daß ich vielmehr immer beim voll-
sten Bewußtsein blieb (alles beruhte ja auf dem
Bewußtsein). Es bemächtigte sich meiner zwar
bis zum Wahnsinn, oder sozusagen bis zum
Trotz, aber niemals bis zur Bewußtlosigkeit.
Wenn es in mir sogar in hellen Flammen stand,
konnte ich es dennoch vollständig beherrschen
und selbst auf seinem höchsten Punkt zum
Stillstand bringen; allein ich wollte es niemals
zum Stillstand bringen. Ich bin überzeugt, daß
ich mein ganzes Leben wie ein Mönch leben
könnte, trotz der tierischen Lüsternheit, mit
der ich begabt bin, und die ich auch in den an-
deren immer weckte. ^o Wenn ich will, bin ich
immer Herr meiner selbst. Ich erkläre also, daß
ich meine Verbrechen weder durch das Milieu
noch durch Krankheiten zu rechtfertigen suche.
Als die Exekution zu Ende war, steckte ich das
Messer in meineWestentasche, ging, ohne einWort
zu sagen, aus dem Hause und warf es, als ich mich
weit vom Hause entfernt hatte, auf die Straße,
damit es kein Mensch erfahre. Dann wartete
ich zwei Tage ab. Die Kleine war, nachdem sie
sich ausgeweint hatte, noch schweigsamer ge-
worden ; gegen, mich hegte sie aber, ich bin da-
39
von überzeugt, kein feindseliges Gefühl. Es
war übrigens wohl auch einige Scham dabei,
daß man sie auf diese Weise in meiner Gegen-
wart bestraft hatte. 21 Aber auch für diese
Schande machte sie, da sie noch ein Kind war,
sicher nur sich selbst verantwortlich. 22
Damals, in diesen zwei Tagen, stellte ich mir
einmal die Frage, ob ich im Stande sei, einen
gefaßten Entschluß aufzugeben, und ich fühlte
sofort, daß ich dazu wohl im Stande sei und
es in jedem Augenblick tun könne. Um jene
Zeit trug ich mich auch mit Selbstmordgedan-
ken herum, infolge einer krankhaften Gleich-
gültigkeit; ich weiß übrigens selbst nicht, war-
um. An einem dieser zwei oder drei Tage ver-
übte ich (da ich unbedingt abwarten wollte, daß
die Kleine alles vergesse), und wohl auch, um
mich von den mich verfolgenden Gedanken ab-
zulenken, oder auch nur zum Spaß, in meiner
Pension einen Diebstahl. Es war der einzige
Diebstahl meines Lebens.
In dieser Pension nisteten viele Leute. Unter
anderem wohnte hier mit seiner Familie in zwei
möblierten Zimmerchen ein Beamter von etwa
vierzig Jahren, nicht dumm, von anständigem
Aussehen, aber arm. Ich verkehrte mit ihm
nicht, und er fürchtete die Gesellschaft, die
40
mich dort umgab. Er hatte soeben seinen Ge-
halt von fünfunddreißig Rubel bekommen. Vor
allem bewegte mich dazu, daß ich in jenem
Augenblick tatsächlich Geld brauchte (obwohl
ich nach vier Tagen welches mit der Post er-
hielt), so daß ich gleichsam aus wirklicher Not
und nicht zum Spaß den Diebstahl beging. Ich
machte es frech und offen: ich trat einfach in
sein Zimmer, als er, seine Frau und die Kin-
der in der anderen Kammer zu Mittag aßen.
Auf dem Stuhle dicht neben der Tür lag zusam-
mengefaltet sein Uniformrock. Dieser Gedanke
hatte mich schon im Korridor durchzuckt. Ich
steckte die Hand in die Tasche des Rockes und
zog ein Portemonnaie hervor. Der Beamte hörte
aber das Geräusch und sah aus der Kammer
heraus. Er hatte es, glaube ich, sogar gesehen,
jedenfalls etwas davon; da er aber nicht alles
gesehen hatte, so traute er natürlich seinen
Augen nicht. Ich sagte, daß ich aus dem Korri-
dor in sein Zimmer hineingeschaut hätte, um
auf seine Wanduhr zu sehen. ,,Sie steht", ant-
wortete er, und ich ging hinaus.
Um jene Zeit trank ich viel und hatte in der
Pension eine ganze Kumpanei, zu der auch Leb-
jadkin gehörte. Das Portemonnaie mit dem
Kleingeld warf ich fort und behielt mir nur die
kl
Banknoten. Es waren zweiunddreißig Rubel,
drei rote und zwei gelbe Scheine. Ich ließ so-
fort einen roten Schein wechseln und Cham-
pagner bringen ; dann schickte ich auch den an-
deren roten Schein wechseln und nach ihm den
dritten. Nach etwa vier Stunden, es war schon
Abend, fing mich der Beamte im Korridor ab.
,, Nikolai Wsewolodowitsch, als Sie vorhin zu
mir hereinkamen, haben Sie da nicht zufällig
meinen Rock vom Stuhle geworfen? ... er lag
neben der Tür."
,,Nein, ich kann mich nicht erinnern. Lag
denn ein Rock da?"
„Gewiß."
„Auf dem Fußboden?"
,,Erst auf dem Stuhle, und dann auf dem
Fußboden."
„Haben Sie ihn aufgehoben?"
,, Gewiß."
,,Was wollen Sie dann noch?"
,,Nun, in diesem Falle nichts ..."
Er wagte nicht zu Ende zu sprechen, wagte
auch nicht, es jemand in der Pension zu erzählen,
so scheu sind oft diese Menschen. In der Pension
hatten vor mir übrigens alle große Angst und
einen tiefen Respekt. Später liebte ich es, ihm
mit den Blicken zu begegnen, an die zwei Mal
42
im Korridor. Bald wurde ich aber dessen über-
drüssig.
Nach drei Tagen kehrte ich in die Gorocho-
waja zurück. Die Mutter war eben im Begriff,
mit einem Pack Sachen fortzugehen ; der Klein-
bürger war natürlich nicht zu Hause ; so blieben
nur ich und Matrjoscha in der Wohnung. Die
Fenster standen offen. Im Hause wohnten lau-
ter Handwerker, und den ganzen Tag hörte
man in allen Stockwerken hämmern und sin-
gen. Wir waren schon eine Stunde zusammen.
Matrjoscha saß in ihrer Kammer auf einem
Schemel mit dem Rücken zu mir und machte
etwas mit einer Nadel. Plötzlich fing sie leise
zu singen an, sehr leise, wie sie es manchmal
zu tun pflegte. Ich zog die Uhr aus der Tasche,
es war zwei. Mein Herz fing an zu klopfen. 23
Ich stand auf und schlich mich an sie heran.
Sie hatten auf den Fensterbrettern viele Gera-
nientöpfe stehen, und die Sonne schien schreck-
lich grell herein. Ich setzte mich leise auf den
Boden neben sie. Sie fuhr zusammen und er-
schrak im ersten Augenblick furchtbar und
sprang auf. Ich nahm ihre Hand und küßte sie
leise ; dann zwang ich sie wieder auf den Sche-
mel und fing an, ihr in die Augen zu schauen.
Daß ich ilir die Hand geküßt hatte, kam ihr
43
als einem Kinde plötzlich komisch vor, aber das
dauerte nur eine Sekunde, denn sie sprang gleich
wieder auf, diesmal so sehr erschrocken, daß
ihr durchs Gesicht ein Krampf lief. Sie sah
mich mit entsetzlich unbeweglichen Augen an,
ihre Lippen zuckten, als wollte sie weinen, aber
sie schrie dennoch nicht auf. Ich küßte ihr wie-
der die Hand und nahm sie auf den Schoß. ^^
Da rückte sie plötzlich mit ganzem Körper weg
und lächelte wie vor Scham, es war aber ein
eigentümliches schiefes Lächeln. Ihr ganzes Ge-
sicht glühte vor Scham. Ich flüsterte ihr im-
mer etwas zu, wie betrunken. Schließlich ge-
schah etwas so Seltsames, was ich niemals ver-
gessen werde, und was mich in Erstaunen setzte :
die Kleine umschlang meinen Hals mit den Ar-
men und fing plötzlich selbst an, mich wahn-
sinnig abzuküssen. Ihr Gesicht drückte voll-
kommenes Entzücken aus. Ich war nahe daran,
aufzustehen und wegzugehen, - so unangenehm
war es mir an dem kleinen Geschöpf, aus Mit-
leid, das ich plötzlich spürte. ^^
Als alles zu Ende war, wurde sie verlegen. Ich
versuchte gar nicht, ihr etwas auszureden, und
liebkoste sie nicht mehr. Sie sah mich an und
lächelte scheu. Ihr Gesicht kam mir auf einmal
dumm vor. Schließlich bedeckte sie das Gesicht
44
mit den Händen und stellte sich unbeweglich in
die Ecke, mit dem Gesicht zur Wand. Ich fürch-
tete, sie würde wieder wie vorhin erschrecken,
und ging schweigend aus dem Hause.
Ich glaube, sie hat das Vorgefallene zuletzt
mitTodesgrauen, als etwas grenzenlos Häßliches
aufgenommen. Trotz der russischen unflätigen
Schimpf Worte und aller sonderbaren Gespräche
die sie von denWindeln an gehört haben mußte,
bin ich vollkommen davon überzeugt, daß sie
nichts davon verstand. Zuletzt hatte sie sicher
den Eindruck, ein ungeheures Verbrechen be-
gangen zu haben, an dem sie die Todsünde
trüge, als hätte sie ,,Gott ermordet".
In der folgenden Nacht hatte ich die Prügelei
in der Kneipe, die ich schon flüchtig erwähnt
habe. Aber ich erwachte am nächsten Morgen in
meiner Pension; Lebjadkin hatte mich heimge-
bracht. Mein erster Gedanke nach dem Erwa-
chen war: ob sie es gesagt hatte oder nicht ^ Es
war der Augenblick einer wirklichen Angst,
wenn auch keiner allzu großen. Ich war sehr
heiter an jenem Morgen und ungewöhnlich gut
gegen alle, und die ganze Kumpanei war mit
mir sehr zufrieden. Ich verließ sie aber und
ging in die Gorochowaja. Ich traf sie schon un-
ten im Flur. Sie kam eben aus dem Laden, wo-
/»5
hin man sie nach Cichorie geschickt hatte. Als
sie mich erblickte, schoß sie in unsagbarer Angst
die Treppe hinauf. Als ich eintrat, hatte ihr die
Mutter bereits eine Ohrfeige gegeben, weil sie
,,wie verrückt** in die Wohnung gestürzt sei,
und das verdeckte die wahre Ursache ihres
Schreckens. Also war vorläufig alles ruhig. Sie
hatte sich irgendwohin verkrochen und kam,
während ich in der Wohnung war, nicht zum
Vorschein. Ich blieb eine Stunde da und ging.
Gegen Abend fühlte ich wieder Angst, aber
schon unvergleichlich stärker. Natürlich hätte
ich alles leugnen können, aber man könnte mir
das Verbrechen dennoch nachweisen, und mir
schwebte schon das Zuchthaus in Sibirien vor.
Ich habe in meinem ganzen Leben, außer die-
sem einen Fall, weder vorher noch nachher
Angst gehabt. Am allerwenigsten vor Sibirien,
obwohl ich schon mehr als einmal verschickt
werden konnte. Diesmal war ich aber wirklich
erschrocken und empfand eine wirkliche Angst,
ich weiß selbst nicht warum, zum erstenmal in
meinem Leben, ein sehr qualvolles Gefühl.
Außerdem überkam mich am Abend in meiner
Pension ein solcher Haß gegen sie, daß ich mich
entschloß, sie zu töten. Mein Haß beruhte vor
allen Dingen auf der Erinnerung an ihr Lächeln.
46
In mir wuchs eine Verachtung, verbunden mit
einem grenzenlosen Abscheu, bei der Erinne-
rung daran, wie sie sich nach demVorgef allenen
in die Ecke gestürzt und das Gesicht mit den
Händen bedeckt hatte ; meiner bemächtigte sich
eine unbeschreibUche Wut, darauf folgte ein
Schüttelfrost, und als ich gegen Morgen Fieber
bekam, fühlte ich wieder Angst, diesmal mit
einer solchen Qual, wie ich sie vorher nie ge-
kannt habe. Ich haßte aber nicht mehr das Mäd-
chen, jedenfalls erreichte der Haß nicht mehr
den Paroxjsmus wie am Abend. Ich habe be-
merkt, daß eine große Angst den Haß und
Rachedurst vollkommen vertreibt.
Ich erwachte gegen Mittag, gesund, und wun-
derte mich sogar über die Kraft meiner gestri-
gen Eindrücke. Ich war jedoch schlechter Laune
und mußte, trotz meines Absehens, wieder in
die Gorochowaja gehen. Ich erinnere mich noch,
daß ich damals ein großes Verlangen spürte,
unterwegs einen Streit mit irgendjemand zu
haben, aber nur einen ernsthaften. Als ich in
die Gorochowaja kam, traf ich in meinem
Zimmer Nina Ssaweljewna an, das Dienst-
mädchen, das schon seit etwa einer Stunde
auf mich wartete. Dieses Mädchen liebte
ich gar nicht, und sie hatte darum ein
47
wenig gefürchtet, daß ich ihr wegen des uner-
warteten Besuches zürnen würde. Aber ich freute
mich plötzHch, sie bei mir zu sehen. Sie war
gar nicht übel, aber bescheiden und hatte Ma-
nieren, wie sie den Kleinbürgern gefallen, so
daß meine Wirtin sie mir schon seit langem
lobte. Ich traf sie beide beim Kaffeetrinken an,
meine Wirtin war mit der angenehmen Unter-
haltung außerordentlich zufrieden. In der
Ecke ihrer Kammer bemerkte ich Matrjoscha.
Sie stand da und sah ihre Mutter und den Be-
such regungslos an. Als ich eintrat, versteckte
sie sich nicht mehr wie damals und lief auch
nicht davon. Mir schien bloß, daß sie sehr ab-
gemagert sei und Fieber habe. Ich war freund-
lich zu Nina und schloß die Tür zu der Wirtin,
was ich schon lange nicht getan hatte, so daß
Nina sehr erfreut wegging. Ich begleitete sie
selbst hinaus und kam dann zwei Tage nicht
mehr in die Gorochowaja. Es langweilte mich
schon. Ich hatte mich entschlossen, allem ein
Ende zu machen, die Wohnung zu kündigen
und Petersburg zu verlassen. ^e
Als ich aber kam, um die Wohnung zu kün-
digen, traf ich die Wirtin in Unruhe und Kum-
mer an: Matrjoscha war schon den dritten Tag
krank, hatte jede Nacht Fieber und phantasierte.
48
Natürlich fragte ich, worüber sie phantasiere
(wir sprachen ganz leise in meinem Zimmer),
unddieWirtin flüsterte mir zii,esseien,,schreck-
■ liehe Dinge": ,,sie hätte Gott ermordet". Ich
schlug ihr vor, auf meine Kosten einen Arzt zu
holen, aber sie wollte es nicht: ,,So Gott will,
wird es auch so vorübergehen; sie liegt ja auch
nicht immer zu Bett, am Tage geht sie aus und
ist sogar vorhin unten im Laden gewesen". Ich
entschloß mich, Matrjoscha allein anzutreffen,
und da mir die Wirtin verraten hatte, daß sie
gegen fünf Uhr auf der Petersburger Seite zu
tun habe, nahm ich mir vor, am Abend wie-
derzukommen.
Ich aß in einem Gasthause zu Mittag. Punkt
fünf und ein Viertel kam ich wieder. Ich pflegte
die Wohnung immer mit meinem eigenen
Schlüssel zu öffnen. Außer Matrjoscha war nie-
mand da. Sie lag in der Kammer hinter der
spanischen Wand, und ich sah, wie sie heraus-
blickte; aber ich tat so, als merkte ich es nicht.
Alle Fenster standen offen. Die Luft war warm,
es war sogar heiß. Ich ging eine Weile auf und ab
und setztemich dann aufsSofa.Ich erinneremich
noch an alles bis zum letzten Augenblick. Es
verschaffte mir einen ausgesprochenen Genuß,
Matrjoscha nicht anzusprechen, sondern sie ver-
^' 49
schmachten zu lassen ; ich weiß selbst nicht, war-
um. Ich wartete eine ganze Stunde, und plötz-
lich sprang sie selbst hinter der spanischen
Wand heraus. Ich hörte, wie ihre beiden Soh-
len auf den Boden stießen, als sie aus dem Bette
sprang, dann recht schnelle Schritte, und da
stand sie schon an der Schwelle meines Zim-
mers. Sie stand da und sah mich schweigend
an. Ich war so gemein, daß mein Herz vor
Freude darüber erzitterte, daß ich mich be-
herrscht und abgewartet hatte, daß sie den ersten
Schritt mache. In diesen Tagen, als ich sie seit
damals kein einziges Mal in der Nähe gesehen
hatte, war sie wirklich entsetzlich abgemagert.
Ihr Gesicht war wie ausgetrocknet, und der
Kopf sicher heiß.
Die Augen waren groß geworden und sahen
mich unverwandt an, mit einer stumpfen Neu-
gier, wie es mir anfangs vorkam. Ich saß da,
sah sie an und rührte mich nicht. Da spürte ich
wieder Haß. Aber ich merkte sehr bald, daß
sie mich gar nicht fürchtete, höchstwahrschein-
lich war es das Fieber. Aber es war auch kein
Fieber. Sie fing plötzlich an, mir sehr schnell
mit dem Kopfe zuzunicken, wie es naive Men-
schen ohne Manieren zu tun pflegen, wenn sie
jemand etwas vorwerfen; plötzlich erhob sie
5o
gegen mich ihre kleine Faust und begann mir,
ohne näher zu kommen, zu drohen. Im ersten
Augenbhck erschien mir diese Bewegung ko-
misch, aber dann konnte ich sie nicht ertragen. ^^
Ihr Gesicht drückte solche Verzweiflung aus,
wie man sie im Gesicht eines Kindes unmöglich
sehen kann. Sie schwang immer ihre kleine
Faust drohend gegen mich und nickte vorwurfs-
voll mit dem Kopf. Ich stand auf, rückte er-
schrocken zu ihr heran und begann vorsichtig,
freundlich und nicht allzu laut zu sprechen,
merkte aber, daß sie mich nicht verstehen würde.
Dann bedeckte sie plötzlich das Gesicht genau
wie damals schnell mit beiden Händen, ging
weg und stellte sich ans Fenster mit dem Rücken
zu mir. Ich kehrte in mein Zimmer zurück und
setzte mich ebenfalls ans Fenster. Ich kann un-
möglich begreifen, warum ich damals nicht
weggegangen sondern geblieben bin, als war-
tete ich auf etwas. Bald hörte ich wieder ihre
schnellen Schritte: sie trat durch die Tür auf
die hölzerne Galerie, von der die Treppe hin-
unterführte, ich aber lief sofort zu meiner Türe,
machte sie etwas auf und konnte noch sehen,
wie Matrjoscha in die winzige Kammer ging,
die an einen Hühnerstall erinnerte und sich
neben einem anderen Ort befand. Ein inter-
h* 5i
essanter Gedanke ging mir plötzlich durch den
Sinn. Ich kann auch heute nicht begreifen, war-
um er mir zuerst in den Sinn kam; folglich
ging alles darauf hinaus. Ich schloß die Türe
und setzte mich wieder ans Fenster. Natürlich
durfte ich dem Gedanken, der mich durchzuckte,
noch nicht glauben; ,,aber immerhin" . . . (ich
erinnere mich an alles, mein Herz klopfte sehr
stark) .
Nach einer Minute sah ich auf die Uhr und
merkte mir so genau wie möglich die Zeit. Wo-
zu ich diese Genauigkeit brauchte, weiß ich
nicht, aber ich hatte die Kraft, es zu tun und
wollte mir in jenem Augenblick überhaupt alles
merken. So erinnere ich mich an alles, was ich
mir gemerkt hatte, und sehe es deutlich vor
Augen. Der Abend rückte heran. Über mir
summte eine Fliege, die sich mir immer wieder
aufs Gesicht setzte. Ich fing sie ein, hielt sie
eine Weile in den Fingern und ließ sie dann
zum Fenster hinaus. Unten fuhr geräuschvoll
ein Wagen in den Hof. Sehr laut (und zwar
schon seit langem) sang ein Handwerker, ein
Schneider, im Fenster in einem Winkel des
Hofes sein Lied. Er saß bei der Arbeit, und ich
konnte ihn sehen. Es fiel mir ein, daß, da mich
niemand gesehen hatte, als ich ins Tor einge-
52
treten und die Treppe hinaufgegangen war, -
es natürlich auch gar nicht nötig sei, daß mir
jemand begegne, wenn ich hinuntergehn würde ;
so rückte ich meinen Stuhl vorsichtig vom Fen-
ster weg, damit mich die Hausbewohner nicht
sähen. Ich griff nach einem Buch, legte es aber
weg und fing an, eine winzige rote Spinne auf
einem Geranienblatt zu beobachten ; darin fand
ich Vergessen. Ich erinnere mich an alles bis
zum letzten Augenblick.
Plötzlich zog ich wieder die Uhr aus der
Tasche. Es waren genau zwanzig Minuten ver-
gangen, seitdem sie das Zimmer verlassen hatte.
Meine Hypothese erschien immer wahrschein-
licher. Aber ich entschloß mich, noch genau
eine Viertelstunde zu warten. Mir kam auch
der Gedanke, daß sie schon zurückgekehrt sei,
und ich es vielleicht überhört habe; aber es
konnte nicht sein : es herrschte eine Grabesstille,
und ich konnte das Summen jeder Fliege hören.
Plötzlich klopfte mir wieder das Herz. Ich zog
die Uhr : es fehlten noch drei Minuten ; ich war-
tete sie ab, obwohl mein Herz so klopfte, daß
es weh tat. Da erhob ich mich, setzte den Hut
auf, knöpfte den Mantel zu und sah mich im
Zimmer um, ob nicht irgendwelche Spuren mei-
ner Anwesenheit geblieben seien. Ich stellte den
53
Stuhl näher ans Fenster, wie er früher gestan-
den hatte. SchHeßlich öffnete ich leise die Tür,
schloß sie mit meinem Schlüssel ab und ging
zu der Kammer. Die Tür war angelehnt, aber
nicht geschlossen ; ich wußte, daß sie sich gar
nicht absperren ließ, wollte aber nicht öffnen,
sondern stellte mich nur auf die Fußspitzen
und blickte durch eine Ritze hinein. In dem
Augenblick, als ich mich auf die Fußspitzen
stellte, erinnerte ich mich, daß ich, als ich am
Fenster gesessen und die kleine rote Spinne be-
obachtet, schon daran gedacht hatte, wie ich
mich auf die Fußspitzen stellen und mein Auge
an die Ritze drücken werde. Indem ich hier
dieses kleine Detail eintrage, will ich unbedingt
beweisen, bis zu welchem Grade ich meiner gei-
stigen Fähigkeiten mächtig war, und daß ich
alles verantworte. Ich sah lange durch die Ritze,
denn es war darin sehr dunkel, aber doch nicht
ganz dunkel, so daß ich schließlich das sah, was
ich wollte ...
Endlich entschloß ich mich fortzugehen. Auf
der Treppe traf ich niemand. Nach etwa drei
Stunden saßen wir alle beisammen ohne Röcke
in der Pension, tranken Tee und spielten mit
alten Karten; Lebjadkin las Verse vor. Man er-
zählte sehr viel, zufällig waren es lauter gelun-
54
gene und komische Erzählungen, und nicht so
dumme wie immer. Auch Kirillow war damals
da. Niemand trank, obwohl eine Flasche Rum
auf dem Tische stand; nur Lebjadkin allein
machte von ihr Gebrauch.
Prochor Malow bemerkte, daß ,,wenn Niko-
lai Wsewolodowitsch zufrieden sei und keine
Grillen fange, auch alle andern lustig seien und
klug sprechen". Ich merkte mir dies schon da-
mals, folglich war ich damals lustig, zufrieden
und fing keine Grillen. Das war aber nur
äußerlich so. Aber ich erinnere mich, gewußt zu
haben, daß ich ein niedriger und gemeiner Feig-
ling bin, weil ich mich so über meine Befreiung
freute, und niemals mehr edel sein werde.
Aber schon gegen elf kam die Kleine des
Hausknechtes aus der Gorochowaja zu mir mit
der Nachricht von der Wirtin gelaufen, daß Ma-
trjoscha sich erhängt habe. Ich ging mit der
Kleinen mit und sah, daß die Wirtin selbst
nicht wußte, weshalb sie nach mir geschickt
hatte. Sie schrie und warf sich hin und her, es
war eine Menge Leute da, auch die Polizei. Ich
blieb eine Weile und ging dann weg.
Man belästigte mich während der ganzen Zeit
fast gar nicht und stellte an mich nur die not-
wendigsten Fragen. Aber außer dem, daß das
55
Kind krank gewesen sei und phantasiert habe,
so daß ich vorgeschlafen hätte, auf meine Ko-
sten einen Arzt zu holen, sagte ich nichts aus.
Man fragte auch etwas wegen des Federmessers;
ich sagte, die Wirtin hätte sie deswegen mit Ru-
ten gezüchtigt, aber das habe nichts auf sich.
Daß ich am Abend dagewesen war, wußte nie-
mand.^s
Acht Tage lang ging ich nicht hin. Ich kam
wieder, als man sie schon längst beerdigt hatte,
um die Wohnung zu kündigen. Die Wirtin
weinte noch immer, machte sich aber schon wie-
der wie früher mit ihren Lumpen und der Näh-
arbeit zu schaffen. ,,lch habe sie damals wegen
Ihres Messers so gekränkt", sagte sie mir, aber
ohne großen Vorwurf. Ich rechnete mit ihr ab,
unter dem Yorwande, daß ich doch in dieser
Wohnung nicht länger bleiben könne, um Nina
Ssaweljewna zu empfangen. Zum Abschied
lobte sie die Nina Ssaweljewna noch einmal.
Ich schenkte ihr fünf Rubel außer dem, was ich
für die Wohnung schuldete.
Vor allen Dingen langweilte mich das Leben
zum Verrücktwerden. Den Vorfall in der Goro-
chowaja hätte ich, nachdem die Gefahr vorüber
war, gänzlich vergessen, ebenso wie alle ande-
ren Erlebnisse jener Zeit, wenn ich mich nicht
56
nach einiger Zeit mit Wut daran erinnerte, wie
feige ich damals war.
Ich Heß meine Wut an jedem aus, an dem ich
nur konnte. Um jene Zeit kam mir, aber nicht
aus irgendeinem bestimmten Grunde, der Ge-
danke, mein Leben irgendwie zu verunstalten,
und zwar möglichst abscheulich. Schon vor
einem Jahre hatte ich mich einmal erschießen
wollen; nun bot sich mir etwas Besseres.
Als mein Blick einmal auf die lahme Mar ja
Timofejewna Lebjadkina fiel, die uns in un-
seren Zimmern manchmal bediente, und die
damals noch nicht verrückt, sondern bloß eine
begeisterte Idiotin war, heimlich in mich ver-
liebt (wie es die unsrigen ausgekundschaftet
hatten), faßte ich den plötzlichen Entschluß,
sie zu heiraten. Der Gedanke an die Verheira-
tung Stawrogins mit diesem letzten aller
Geschöpfe reizte meine Nerven. Etwas Häß-
licheres war gar nicht auszudenken. 29 Jedenfalls
heiratete ich sie nicht nur wegen einer W'ette
nach einem Trinkgelage. Der Trauung wohn-
ten Kirillow und Pjotr Werchowenskij bei, der
zufällig in Petersburg war; dann auch Lebjad-
kin selbst und Prochor Malow (jetzt ist er tot).
Sonst erfuhr niemand etwas davon, diese ga-
ben mir aber das Wort zu schweigen. Dieses
57
Schweigen kam mir immer als eine Gemeinheit
vor, aber es ist bis heute noch nicht verletzt,
obwohl ich die Möglichkeit hatte, es publik zu
machen; jetzt gebe ich es mit allem anderen
bekannt.
Nach der Trauung fuhr ich in die Provinz zu
meiner Mutter. Ich fuhr zur Zerstreuung. ^o In
unserer Stadt ließ ich den Eindruck zurück,
daß ich verrückt sei, einen Eindruck, der auch
heute noch besteht und mir zweifellos schadet,
was ich weiter erklären werde. Dann fuhr ich
ins Ausland und blieb dort vier Jahre.
Ich war im Orient, auf dem Berge Athos,
wo ich Abendgottesdiensten von acht Stunden
Dauer stehend beiwohnte, in Ägypten, hielt
mich in der Schweiz auf, war sogar auf Island,
und absolvierte ein ganzes Jahr in Göttingen.
Im letzten Jahr befreundete ich mich mit einer
vornehmen russischen Familie in Paris und mit
zwei russischen jungen Mädchen in der Schweiz.
Vor zwei Jahren ging ich einmal in Frankfurt
an einer Schreibwarenhandlung vorbei und sah
zwischen den zum Verkauf ausgestellten Photo-
graphien das Bild eines hübschgekleideten klei-
nen Mädchens, das aber große Ähnlichkeit mit
Matrjoscha hatte. Ich kaufte mir sofort das
Bild und legte es, ins Hotel zurückgekehrt, auf
58
den Kaminsinis. Hier blieb es an die acht Tage
unberührt Hegen, ich sah es kein einziges Mal
an, und als ich Frankfurt verließ, vergaß ich
es mitzunehmen.
Ich trage dies ein, um zu zeigen, in welchem
Maße ich die Erinnerungen in meiner Gewalt
hatte, und wie gefühllos ich gegen sie geworden
war. Ich wies sie alle als ganze Masse zurück,
und die ganze Masse verschwand gehorsam, so-
bald ich es nur wollte. Es war mir immer lang-
weilig, an das Vergangene zu denken, und ich
konnte auch niemals vom Vergangenen spre-
chen, wie es fast alle Menschen tun, umsomehr
als es mir, wie alles, was mit mir zusammen-
hing, verhaßt war. Was aber Matrjoscha be-
trifft, so habe ich sogar ihr Bild auf dem Ka-
minsims vergessen. Als ich im vorigen Jahre,
im Frühling durch Deutschland reiste, ver-
paßte ich aus Zerstreutheit eine Station, auf der
ich umsteigen mußte, um mein Reiseziel zu er-
reichen, und kam so auf eine andere Strecke.
Man setzte mich auf der folgenden Station aus
dem Zuge ; es war die dritte Nachmittagsstunde,
der Tag war heiter. Es war ein kleines deutsches
Städtchen. Man zeigte mir einen Gasthof. Ich
mußte warten. Der nächste Zug ging erst um
elf Uhr abends. Ich freute mich sogar über das
59
Abenteuer, denn ich hatte keine Eile. Der Gast-
hof war klein und schlecht, lag aber ganz im
Grünen und von Blumenbeeten umgeben. Ich
bekam ein enges Zimmerchen. Ich aß gut zu
Mittag und schlief, da ich die ganze Nacht un-
terwegs gewesen war, um vier Uhr nachmittags
prachtvoll ein.
Ich hatte einen für mich durchaus unerwar-
teten Traum, dergleichen hatte ich noch nie ge-
träumt. In der Dresdner Galerie hängt ein Bild
A-^on Claude Lorrain, das nach dem Katalog,
glaube ich, ,,Acis und Galatea" heißt; ich
pflegte es aber, ich weiß selbst nicht warum,
,, Goldenes Zeitalter" zu nennen. Ich hatte es
auch schon früher gesehen und es mir vor drei
Tagen, als ich durch Dresden kam, wieder ge-
merkt. Ich war sogar eigens zu diesem Zweck
in die Galerie gegangen, um es zu sehen; viel-
leicht hatte ich auch nur wegen dieses Bildes
den Abstecher nach Dresden gemacht. Dieses
Bild sah ich nun im Traume, aber nicht als ein
Gemälde, sondern als Wirklichkeit.
Es war ein Winkel des Griechischen Ar-
chipel; freundliche, blaue Wellen, Inseln und
Felsen, ein blühender Strand, ein zauberhaf-
tes Panorama in der Ferne, eine untergehende,
lockende Sonne - mit Worten kann man es gar
60
nicht wiedergeben. Hier hatte sich die Mensch-
heit ihre Wiege gedacht, hierher versetzte sie
die ersten Szenen der Mythologie, hier war ihr
irdisches Paradies . . . Hier lebten herrliche Men-
schen. Beim Erwachen und Einschlafen waren
sie gleich glücklich und unschuldig; die Ge-
hölze widerhallten von ihren freudigen Liedern,
der große Überfluß unverbrauchter Kräfte wan-
delte sich in Liebe und einfältige Freude. Die
Sonne übergoß mit ihren Strahlen diese Inseln
und das Meer und freute sich ihrer schönen
Kinder. Ein herrlicher Traum, eine erhabene
Täuschung ! Ein Traum, unwahrscheinlicher als
alle, die die Menschheit je gehabt, dem sie aber
ihr ganzes Leben lang alle ihre Kräfte hingab,
dem sie alles opferte, dem zuliebe ihre Prophe-
ten an Kreuzen starben und getötet wurden,
ohne den die Völker nicht leben wollen werden
und selbst nicht sterben können. Diese ganze
Empfindung durchkostete ich gleichsam in die-
sem Traume ; ich weiß nicht genau, was ich alles
träumte, aber die Felsen und das Meer und die
schrägen Strahlen der untergehenden Sonne
glaubte ich auch dann noch zu sehen, als ich er-
wachte und die Augen öffnete, die zum ersten
Male in meinem Leben voller Tränen waren.
Das Gefühl einer mir noch unbekannten Freude
6i
durchdrang mein Herz so, daß es sogar weh tat.
Es war schon Abend ; ins Fenster meines kleinen
Zimmers drang durch das Grün der auf dem
Fensterbrett stehenden Blumenstöcke eine ganze
Garbe greller, schräger Strahlen der untergehen-
den Sonne, die mich mit ihrem Lichte überflu-
tete. Ich beeilte mich, die Augen wieder zu
schließen, als wollte ich den entschwundenen
Traum zurückrufen, aber inmitten des unsag-
bar grellen Lichtes sah ich plötzlich einen win-
zigen Punkt. Dieser Punkt fing plötzlich an,
Gestalt anzunehmen, und plötzlich sah ich vor
mir eine winzige rote Spinne. Ich erinnerte
mich ihrer sofort, wie sie auf demGeraniumblatt
gesessen, als die Strahlen der untergehenden
Sonne ebenso hereinfluteten. Etwas bohrte sich
in mich, ich erhob mich und setzte mich aufs
Bett . . .
(Das ist alles, wie es damals geschah!)
Ich sah vor mir - (oh, nicht im Wachen!
wenn es doch eine wirkliche Vision gewesen
wäre!) - ich sah Matrjoscha, abgemagert, mit
fiebernden Augen, genau so wie damals, als sie
bei mir auf der Schwelle stand, mir zunickte
und ihr kleines Fäustchen gegen mich erhob.
Mir ist noch nichts so qualvoll erschienen! Die
elende Verzweiflung eines hilflosen si Geschöpfs
62
mit noch unfertigem Verstand, das mir drohte
(womit? was hätte es mir tun können? - mein
Gottl), das aber natürhch nur sich allein an-
klagte 1 Dergleichen hatte ich noch nie erlebt.
Ich saß bis zum späten Abend da, ohne mich zu
rühren und dachte nicht an die Zeit. Ob man
das Gewissensbisse oder Reue nennt, weiß ich
nicht und könnte es auch jetzt nicht sagen. ^2
Unerträglich ist mir aber nur dieses eine Bild,
wie sie an der Schwelle mit der erhobenen und
drohenden kleinen Faust gestanden hatte, nur
ihr damaliges Aussehen, nur jener Augenblick,
nur das Nicken mit dem Kopfe. Das ist es, was
ich nicht ertragen kann, denn es erscheint mir
auch jetzt noch jeden Tag. Es erscheint nicht
von selbst, sondern ich rufe es selbst, und es
ist mir unmöglich, es nicht zu rufen, obwohl
ich damit nicht leben kann. Oh, wenn ich sie
doch nur einmal im Wachen sehen könnte, und
sei es auch nur in einer Halluzination I^s
Warum erregt keine der anderen Erinnerun-
gen meines Lebens in mir etwas Ähnliches? -
ich hatte aber ihrer viele, die vor dem Gerichts-
stuhle der Menschen noch schlimmer erscheinen
mögen.
Höchstens den Haß, der aber von meiner
jetzigen Lage hervorgerufen ist; früher konnte
63
ich ihn aber kaltblütig vergessen und von mir
weisen.
Nachher trieb ich mich fast ein ganzes Jahr
herum und bemühte mich, eine Beschäftigung
zu finden. Ich v^eiß, daß ich Matrjoscha auch
jetzt von mir weisen könnte, wenn ich es wollte.
Ich bin noch immer vollständig Herr meines
Willens, genau wie früher. Das ist aber die
Sache, daß ich es niemals habe tun wollen, es
selbst nicht will und auch nicht wollen werde.
So wird es bleiben, bis ich wahnsinnig werde.
Zwei Monate später, in der Schweiz, über-
kam mich wieder solch ein Anfall von Leiden-
schaft, wie ich sie nur einst, in der ersten Zeit,
erfahren hatte. 3* Ich fühlte eine schreckliche
Versuchung zu einem neuen Verbrechen, und
zwar zur Bigamie (denn ich bin schon verhei-
ratet) ; aber ich floh davon auf Rat eines an-
deren Mädchens, dem ich alles eröffnet und so-
gar gestanden hatte, daß ich jene, die ich so be-
gehrte, gar nicht liebte und auch niemals lieben
können würde. - Dieses neue Verbrechen würde
mich außerdem niemals von Matrjoscha erlösen.
So entschloß ich mich denn, diese Blätter
drucken zu lassen und in dreihundert Exem-
plaren nach Rußland einzuführen; wenn die
Zeit kommt, schicke ich sie der Polizei und den
64
lokalen Behörden; gleichzeitig schicke ich sie
an die Redaktionen aller Zeitungen mit der Bitte
um Veröffentlichung und an die vielen Leute
in Petersburg und ganz Rußland, die mich ken-
nen. Gleichzeitig wird es im Auslande in Über-
setzung erscheinen. Ich weiß, daß man mich
juristisch vielleicht nicht behelligen wird, je-
denfalls nicht fühlbar; ich klage mich selbst ^n
und habe keinen anderen Ankläger, außerdem
gibt es gar keine oder nur sehr wenige Beweise.
Schließlich hat sich überall die Ansicht festge-
setzt, daß ich geistesgestört sei, und meine Ver-
wandten werden sich das zunutze machen und
jede für mich gefährliche juristische Verfol-
gung im Keime ersticken. Das erkläre ich u.a.,
um zu zeigen, daß ich jetzt bei vollem Verstand
bin und meine Lage wohl begreife. Mir bleiben
aber diejenigen, die alles wissen werden; sie
werden auf mich sehen, und ich auf sie. Ich
will, daß alle auf mich sehen. Ob es mich er-
leichtern wird, weiß ich nicht. Ich greife da-
nach als nach dem letzten Mittel.
Noch einmal: wenn man bei der Petersbur-
ger Polizei ordentlich nachforschen wollte, so
könnte man vielleicht alles finden. Die Klein-
bürger können auch jetzt noch in Petersburg
leben. Auf das Haus wird man sich natürlich
5 65
besinnen. Es war von hellblauer Farbe. Ich aber
werde nirgends verreisen und mich einige Zeit
(ein Jahr oder zwei) ständig in Skworeschniki,
dem Gute meiner Mutter, aufhalten. Wenn man
mich aber ruft, will ich überall erscheinen.
Nikolai Stawrogin
66
NEUNTES KAPITEL35
Das Lesen dauerte etwa eine Stunde. Tichon
las langsam und überflog vielleicht einige Stellen
zweimal. Stawrogin saß die ganze Zeit schwei-
gend und unbeweglich. Seltsam: der Ausdruck
von Ungeduld, Zerstreutheit und einer Art Deli-
rium, den sein Gesicht diesen ganzen Morgen
gezeigt hatte, war fast ganz verschwunden und
hatte denn Ausdruck von Ruhe und einer Art
Aufrichtigkeit Platz gemacht, was ihm ein fast
würdiges Aussehen verlieh. 3g Tichon nahm die
Brille ab, wartete eine Weile, richtete auf ihn
schließlich seinen Blick und begann als erster
mit einiger \orsicht:
,, Könnte man nicht in diesem Dokument eini-
ges korrigieren?"
„Wozu? Ich habe es aufrichtig geschrieben",
antwortete Stawrogin.
,,Ein wenig den Stil ..."
,,Ich vergaß, Sie darauf aufmerksam zu ma-
chen", sagte er schnell und scharf, sich mit dem
5* G7
ganzen Rumpf vorbeugend, ,,daß alle Ihre
Worte vergebens sein w^erden; ich w^erde meine
Absicht nicht aufgeben; bemühen Sie sich
nicht, sie mir auszureden. Ich w^erde es ver-
öffentlichen."
„Sie haben nicht versäumt, mir es schon vor-
her, vor dem Lesen zu sagen."
,,Gan7 gleich", unterbrach ihn Stawrogin
scharf, ,,ich wiederhole noch einmal: wie groß
auch die Kraft Ihrer Einwände sein mag, ich
werde meine Absicht nicht aufgeben. Merken
Sie sich auch, daß ich Sie mit dieser ungeschick-
ten oder geschickten Wendung - denken Sie
sich, was Sie wollen - durchaus nicht provo-
zieren will, damit Sie schneller mit Ihren Ein-
wänden und Bitten kommen.""
,,Ich könnte Ihnen gar nichts einwenden und
noch viel weniger Sie bitten, daß Sie Ihre Ab-
sichten aufgeben. Diese Idee ist groß, und der
christliche Gedanke kann gar nicht vollständi-
ger zum Ausdruck kommen. Die Reue kann
gar nicht weiter als zu der wunderbaren Tat,
die Sie planen, gehen, wenn es nur ..."
,,Wenn was?"
,,Wenn es nur wirklich Reue und ein christ-
licher Gedanke wäre."
,,Ich habe es aufrichtig geschrieben."
68
,,Sie wollen anscheinend sich selbst mit Ab-
sicht roher hinstellen, als es Ihr Herz möchte ..."
fuhr Tichon immer kühner fort. Das ,, Doku-
ment" hatte auf ihn wohl einen starken Ein-
druck gemacht.
„Mich hinstellen? - Ich wiederhole: ich will
mich als nichts ,hinstellen' und am allerwenig-
sten Komödie spielen."
Tichon senkte schnell den Blick.
„Dieses Dokument kommt direkt aus dem
Bedürfnis eines tödlich verwundeten Herzens, -
ich verstehe Sie doch richtig?" sagte er ein-
dringlich mit ungewöhnlichem Feuer. ,,Ja, es
ist die Reue und das natürliche Bedürfnis nach
Reue, das Sie besiegt hat, und Sie haben einen
großen Weg betreten, einen unerhörten Weg.
Aber Sie scheinen schon im voraus alle zu has-
sen und zu verachten, die das hier Beschriebene
lesen werden, und sie zum Kampfe herauszu-
fordern. Wenn Sie sich nicht schämen, das Ver-
brechen zu gestehen, warum schämen Sie sich
dann der Reue?"
,,lcli schäme mich?"
,,Sie schämen sich und fürchten."
,,Ich fürchte mich?"
„Bis zur Todesangst. Sollen sie nur auf mich
sehen, sagen Sie ; nun, und Sie selbst, wie wer-
69
den Sie auf sie sehen? Gewisse Stellen Ihrer
Schilderung sind durch den Stil unterstrichen;
Sie scheinen Ihre Psychologie zu bewundern
und klammern sich an jede Kleinigkeit, nur um
den Leser durch die Gefühllosigkeit in Erstau-
nen zu setzen, die Ihnen gar nicht eigen ist.
Was ist es denn, wenn nicht eine hochmütige
Herausforderung des Schuldigen an den Rich-
ter."
,,Wo ist denn die Herausforderung? Ich habe
ja alle persönlichen Betrachtungen ausgeschal-
tet."
Tichon sagte nichts. Seine blassen Wangen
röteten sich sogar.
„Lassen wir das", brach Stawrogin scharf
ab. ,, Gestatten Sie auch mir, eine Frage zu stel-
len: wir sprechen schon fünf Minuten darüber
(er wies mit einer Kopfbewegung auf die Blät-
ter), und ich sehe an Ihnen keinerlei Ausdruck
von Abscheu oder Scham . . . Sie scheinen nicht
heikel zu sein ..."
Er kam nicht weiter. ^s
,,Ich will vor Ihnen nichts verheimlichen : i:h
entsetzte mich vor der großen müßigen Kraft, die
mit 7\l)sicht zu Gemeinheiten verschwendet wor-
den ist. Und was das Verbrechen selbst betrifft,
so begehen viele dieselbe Sünde, leben aber in
70
Frieden mit ihrem Gewissen und in Ruhe und
sehen es sogar als unvermeidliche Vergehen der
Jugend an. Es gibt auch Greise, die ebenso sün-
digen, sogar mit Genuß und Frivolität. Die
ganze Welt ist voll solcher Schrecken. Sie ha-
ben aber die ganze Tiefe erkannt, was in diesem
Maße sehr selten vorkommt."
,, Haben Sie mich vielleicht nach dieser Lek-
türe zu achten angefangen?" fragte Stawrogin
mit einem schiefen Lächeln.
,, Darauf gebe ich keine direkte Antwort. Aber
ein größeres und schrecklicheres Verbrechen als
Ihre Tat an der Kleinen ist natürlich unmög-
lich."
,,Wir wollen nicht mit Ellen messen. 3» Viel-
leicht leide ich wirklich nicht so sehr, wie ich es
hier beschrieben habe, vielleicht habe ich auch
vieles über mich erlogen", fügte er ganz uner-
wartet hinzu.
Tichon sagte darauf wieder nichts.*"
,,Und das junge Mädchen", fing Tichon von
neuem an, ,,mit dem Sie in der Schweiz ge-
brochen haben, wo befindet sie sich jetzt, wenn
ich fragen darf ... in diesem Augenblick?"
,,Hier."
Er sagte wieder nichts.
„Vielleicht habe ich über mich sehr viel ge-
71
logen", wiederholte Stawrogin eindringlich.
,,Was macht es übrigens, daß ich die Leute
durch die Roheit meiner Beichte herausfor-
dere, wenn Sie die Herausforderung bereits be-
merkt haben? ! Ich werde sie zwingen, mich noch
mehr zu hassen, das ist alles. Aber davon würde
mir nur leichter werden."
„Das heißt, der Haß gegen Sie wird in Ihnen
einen Gegenhaß wecken, und wenn Sie hassen,
wird es Ihnen leichter sein, als wenn Sie ihr
Mitleid annehmen."
,,Sie haben recht. Wissen Sie", sagte er plötz-
lich lachend: ,,man wird mich nach diesem Do-
kument vielleicht einen Jesuiten und einen
frommen Heuchler nennen, ha ha ha! Nicht
wahr?"
,,Eswird unbedingt auch diese Ansicht geben.
Hoffen Sie Ihre Absicht bald auszuführen?"
,, Heute, morgen, übermorgen, woher soll ich
es wissen? Aber sehr bald. Sie haben recht, es
wird gerade so kommen, daß ich es ganz plötz-
lich veröffentliche, und zwar gerade in einem
Augenblick von Haß und Rachedurst, wo ich
sie am meisten hassen werde."
,, Beantworten Sie mir eine Frage, aber auf-
richtig, nur mir allein", sagte Tichon mit einer
ganz anderen Stimme: ,,Wenn Ihnen jemand
72
beim Lesen Ihrer schrecklichen Beichte dies da
(Tichon zeigte auf die Blätter) vergeben würde,
und zwar nicht einer von denen, die Sie achten
oder fürchten, sondern ein Fremder, ein Mensch,
den Sie niemals kennen lernen werden, stumm
vor sich hin, - würde Ihnen bei diesem Ge-
danken leichter werden, oder wäre es Ihnen ganz
gleich?"
,,Es wäre mir wohl leichter", antwortete
Stawrogin halblaut. ,,Wenn Sie mir verziehen,
so wäre mir viel leichter", fügte er hinzu, die
Augen senkend.
„Auf daß auch Sie mir ebenso verzeihen!"
versetzte Tichon mit bewegter Stimme. ^^
,,Das ist eine üble Demut. Wissen Sie, diese
mönchischen Formeln sind so gar nicht hübsch.
Ich werde Ihnen die ganze Wahrheit sagen : ich
möchte, daß Sie mir verzeihen. Zugleich mit
Ihnen auch ein anderer, ein dritter, aber alle
zusammen sollen mich lieber hassen. Das möchte
ich, um es mit Demut zu tragen ..."
,,Das allgemeine Mitleid würden Sie aber
nicht mit Demut tragen können?"
,, Vielleicht könnte ich es nicht. Warum . . ."
,,Ich fühle den Grad Ihrer Aufrichtigkeit,
und es ist natürlich meine große Schuld, daß
ich an die Menschen nicht richtig heranzutreten
73
verstehe. Ich habe es immer als einen Mangel
empfunden", sagte Tichon aufrichtig und aus
tiefem Herzen, Stawrogin gerade in die Augen
blickend. ,,Ich sagte das nur, weil ich für Sie
fürchte", fügte er hinzu: ,,Vor Ihnen gähnt
ein fast unüberbrückbarer Abgrund."
,,Ich werde es nicht aushalten? Ich werde
ihren Haß nicht ertragen können?" fuhr Staw-
rogin auf.
,, Nicht den Haß allein."
„Was denn noch?"
„Auch ihr Lachen", brachte Tichon mühevoll
im Flüsterton hervor.
Stawrogin wurde verlegen; sein Gesicht
zeigte Unruhe.
,,Ich habe es vorausgeahnt", sagte er. ,, Folg-
lich erscheine ich Ihnen nach der Lektüre mei-
nes , Dokuments* als eine sehr komische Figur. *2
Seien Sie unbesorgt, und genieren Sie sich
nicht, ich habe es erwartet."
,,Das Entsetzen wird allgemein und natür-
lich mehr geheuchelt als aufrichtig sein. Die
Menschen entsetzen sich nur vor dem, was ihre
persönlichen Interessen direkt bedroht. Ich
spreche nicht von den reinen Seelen : diese wer-
den nur innerlich erschaudern und sich selbst
anklagen; da sie aber schweigen werden, wird
74
man sie nicht merken. Das Lachen wird aber
allgemein sein.*^"
,,Ich muß mich wundern, daß Sie so schlecht
und mit solchem Abscheu von den Menschen
denken", sagte Stawrogin mit einiger Gehässig-
keit.
,, Glauben Sie mir: ich habe eben mehr an
mich selbst gedacht als an die Menschen!" rief
Tichon aus.
,, Wirklich? Ist denn auch in Ihrer Seele et-
was, was sich an meinem Unglück belustigt?"
,,Wer weiß, vielleicht ist so etwas in ihr.
Vielleicht ist es wirklich so!"
„Genug. Zeigen Sie mir nun, wo ich in mei-
nem Manuskript lächerlich bin ! Ich weiß selbst,
wo ich es bin, aber ich will, daß Sie es mir mit
Ihrem Finger zeigen. Und erklären Sie es mir
möglichst zynisch, mit der ganzen Aufrichtig-
keit, zu der Sie fähig sind. Ich aber sage Ihnen
noch einmal, daß Sie ein merkwürdiger Kauz
sind."
,, Schon in der Form Ihrer großen Beichte
selbst ist etwas Lächerliches enthalten. Glauben
Sie nur nicht, daß Sie nicht siegen werden!"
rief er plötzlich beinahe begeistert. ,, Selbst
diese Form (er zeigte auf die Blätter) wird sie-
gen, wenn Sie sich nur aufrichtig ins Gesicht
75
schlagen und anspeien lassen. Alles hat immer
damit geendet, daß das schändlichste Kreuz zu
einem großen Ruhme und einer großen Kraft
wurde, wenn die Demut der Tat wirklich auf-
richtig gewesen ist. Vielleicht werden Sie schon
bei Ihren Lebzeiten getröstet sein! ..."
,,Sie finden also vielleicht nur in der Form
allein etwas Lächerliches?" drang Stawrogin in
ihn ein.
„Und im Wesen selbst. Die Häßlichkeit wird
Sie morden", flüsterte Tichon, die Augen sen-
kend.
„Die Häßlichkeit ! Was für eine Häßlichkeit?"
„Des Verbrechens. Es gibt wahrhaft häß-
liche Verbrechen. Jedes Verbrechen, wie es auch
sein mag, ist umso eindrucksvoller und sozu-
sagen malerischer, je mehr Blut und Schrecken
dabei ist; aber es gibt, abgesehen von jedem
Schrecken, auch beschämende, schmähliche, so-
gar allzu unschöne Verbrechen ..."
Tichon sprach den Satz nicht zu Ende.
,,Das heißt", fiel ihm Stawrogin erregt ins
Wort, ,,Sie finden also, daß ich höchst lächer-
lich war, als ich dem schmierigen Mädel die
Hände küßte.*^ Ich verstehe Sie vollkommen,
und Sie verzweifeln an mir nur deshalb, weil
es unschön und ekelhaft, nein, nicht ekelhaft,
76
sondern beschämend und lächerlich war, und
glauben, daß ich gerade dies am wenigsten er-
tragen werde."
Tichon sagte nichts.*^
„Ich verstehe, warum Sie sich nach dem
Fräulein aus der Schweiz erkundigt haben, ob
sie hier ist."
,,Sie sind nicht vorbereitet, Sie sind nicht
abgehärtet", flüsterte Tichon schüchtern, die
Augen senkend: ,,Sie sind vom Boden losgeris-
sen, Sie glauben nicht."
,, Hören Sie, P. Tichon: ich will mir selbst
verzeihen, und das ist mein Hauptziel, mein
einziges Ziel!" sagte plötzlich Stawrogin mit
einem düsteren Entzücken im Blick. „Ich weiß,
daß die Vision nur dann verschwinden wird.
Darum suche ich auch das maßlose Leid,
darum suche ich es selbst. Erschrecken Sie
nicht, sonst gehe ich in Bosheit zugrunde."
Diese Aufrichtigkeit war so unerwartet, daß
Tichon sich erhob.
,,Wenn Sie glauben, daß Sie sich selbst ver-
zeihen und diese Selbstverzeihung in dieserWelt
durch Leid erlangen können, wenn Sie sich die-
ses Ziel gläubig setzen, so glauben Sie schon an
alles I" rief Tichon begeistert. ,,Wie können Sie
nur sagen, daß Sie nicht an Gott glauben?"
77
Stawrogin gab keine Antwort.
„Gott wird Ihnen Ihren Unglauben verzei-
hen, denn Sie verehren den Heihgen Geist, ohne
ihn zu kennen."
,,Wird mir übrigens Christus verzeihen?"
fragte Stawrogin mit einem schiefen Lächeln
und in einem veränderten Ton, in dem etwas
wie Ironie lag.
„Es steht in der Schrift: ,Wer aber ärgert
dieser Geringsten einen'. Sie erinnern sich doch.
Nach dem EvangeHum gibt es kein größeres
\ erbrechen ..."
,,Sie wollen einfach keinen Skandal und stel-
len mir eine Falle, mein guter P. Tichon", sagte
Stawrogin wegwerfend und ärgerlich durch die
Zähne und wollte schon aufstehen. ,,Kurz, Sie
wollen, daß ich solid werde, vielleicht auch hei-
rate, mein Leben als Mitglied des hiesigen Klubs
beschließe und an jedem Feiertag Ihr Kloster
besuche. Sie werden mir höchstens eine Kir-
chenbuße auferlegen ! Nicht wahr? 1 Vielleicht
ahnen Sie als Herzenskenner schon voraus, daß
es zweifellos gerade so kommen wird, und es
bleibt nur noch, mich jetzt, des Anstandes hal-
ber, ordentlich zu bitten, da ich doch selbst nur
danach lechze, nicht wahr?!"
Er lächelte unnatürKch.
78
,,Nein, es ist nicht diese Kirchenbuße, ich
habe für Sie eine andere bereit!" fuhr Tichon
mit Feuer fort, ohne dem Lachen und der Be-
merkung Stawrogins auch die geringste Beach-
tung zu schenken.
,,lch kenne einen Starez, nicht hier, aber
nicht weit von hier, einen Einsiedler und Aske-
ten von so tiefer christUcher Weisheit, wie wir
beide sie nicht begreifen werden. Er wird auf
meine Bitten hören. Ich werde ihm alles von
Ihnen sagen. Gehen Sie zu ihm, unterwerfen
Sie sich seiner Leitung für fünf oder sieben
Jahre, soviel Sie in der Zukunft selbst als nötig
erachten werden. Leisten Sie ein Gelübde, und
mit diesem großen Opfer werden Sie alles er-
kaufen, wonach Sie lechzen, und selbst was Sie
nicht erwarten, denn Sie können jetzt gar nicht
begreifen, was Sie gewinnen werden."
Stawrogin hörte ihn mit ernster Miene an.
,,Sie schlagen mir vor, in jenes Kloster als
Mönch einzutreten? "*6
,,Sie brauchen gar nicht im Kloster zu
sein und die Mönchsweihen zu empfangen;
werden Sie bloß heimlicher, kein offizieller
Novize; Sie können dabei sogar ganz in der
Welt leben..."
„Lassen Sie das, P. Tichon", unterbrach ihn
79
Stawrogin angeekelt und erhob sich von seinem
Stuhl, Auch Tichon stand auf.
,,Was ist mit Ihnen?" schrie er plötzlich auf,
Tichon fast erschrocken ansehend. Jener stand
vor ihm, die Hände wie im Gebet gefaltet, und
ein krankhafter, wie vom höchsten Entsetzen
hervorgerufener Krampf durchzuckte sein Ge-
sicht.
,,Was ist mit Ihnen? Was ist mit Ihnen?"
wiederholte Stawrogin, sich zu ihm stürzend,
um ihn zu stützen. Er glaubte, daß jener um-
fallen würde.
,,lch sehe . . . ich sehe ganz deutlich", rief
Tichon mit einer herzdurchdringenden Stimme
und mit dem Ausdruck der tiefsten Trauer, ,,daß
Sie, armer, verlorener Jüngling einem neuen,
noch größeren Verbrechen noch nie so nahe ge-
wesen sind wie in diesem Augenblick."
,, Beruhigen Sie sich!" beschwichtigte ihn
Stawrogin, der um ihn aufrichtig besorgt war.
,, Vielleicht werde ich es noch aufschieben . . .
Sie haben recht ..."
,,Nein, nicht nach der Veröffentlichung, son-
dern vorher, einen Tag, vielleicht eine Stunde
vor dem großen Schritt werden Sie sich in ein
neues \ erbrechen stürzen, werden däLnacn~als
naclf einem Ausweg greifen und werden es ein-
"8^7
zig zu dem Zweck verüben, um die Veröffent-
lichung dieser Blätter zu vermeiden." - ••
Stawrogin erbebte sogar vor Wut und fast
vor Schreck.
„Verfluchter Psycholog!" rief er plötzlich
w^ie rasend und ging, ohne sich umzusehen, aus
der Zelle.
8i
ANHANG
Die wichtigsten der von Dostojewski] in
den Korrekturfahnen gestrichenen
Stellen und, Lesarten
1 Die ursprüngliche Überschrift lautete ,,Neun-
tes Kapitel".
2 Nach ,,verrückt" gestrichen: ,, jedenfalls ein
vollkommen talentloses Geschöpf .
3 Hier stand ursprünglich: ,,Nikolai Wsewo-
lodowitsch war noch immer sehr zerstreut
infolge irgendeiner inneren, ihn erdrücken-
den Erregung/'
* IS ach ,, Duell" gestrichen: ,,Sie haben hier
sehr viel gehört" .
ö Statt ,, ließen sich behandeln" stand ursprüng-
lich: ,,wurden geheilt".
6 Nach ,, unbestimmt*' gestrichen: „Lnd wissen
Sie, es steht Ihnen gar nicht an, die Augen
zu senken: es ist unnatürlich, komisch und
maniriert" .
85
^ Nach ,,alles" gestrichen: ,,Sie müssen furcht-
bar froh sein" .
8 Nach ,,Vielleicht" gestrichen: ,,Das ist nicht
schlecht. Warum zweifeln Sie denn?" - ,,Ich
glaube nicht vollkommen" .
^ Nach ,, senkend" gestrichen: ,,Seine Mund-
winkel begannen plötzlich nervös und schnell
zu zucken" .
10 Nach ,,Unglauben" gestrichen: „Oh, Pf äff!"
" Nach ,, Gewiß" gestrichen : „Herrliche Worte" .
Weiter: „Herrliche und für einen Bischof
sonderbare Worte, und Sie sind überhaupt
ein Kauz." - gestrichen.
12 Nach ,,Stawrogin" gestrichen: ,,Das ist für
die Mittelschicht, für die Gleichgültigen, nicht
wahr?"
" Nach ,,Ich habe es" gestrichen: ,,an Ihrem
Gesicht" .
1^ Nach ,,unverändert auf" gestrichen: „Es ist
anzunehmen, daß es jetzt schon vielen be-
kannt ist."
i5_i6 Dieser ganze lange Passus fehlt in den
Moskauer Korrekturfahnen und ist nur im
Petersburger Manuskript enthalten. (Siehe
Einleitung.)
" Nach ,,bei mir" gestrichen: „in Gegenwart
der Freunde und ihres Mannes" .
86
18 Nach „mit ihrer" gestrichen: ,,ich glaube
vierzehnjährigen" .
19 Nach ,, ausgeschimpft" gestrichen: „(ich lebte
einf ach, und sie genierten sichvor mir nicht)" .
20 Nach „immer weckte" gestrichen: „Nachdem
ich bis zu meinem sechzehnten Lebensjahr
in ungewöhnlicher Unmäßigkeit dem Laster
gefröhnt hatte, das J . J . Rousseau in seiner
Beichte erwähnt, hörte ich damit in dem
Augenblick auf, als ich es mir vorgenommen,
in meinem siebzehnten Lebensjahre" .
21 Nach ,,bestraft hatte" gestrichen: ,,sie schrie
nicht, sondern schluchzte nur unter den
Schlägen, natürlich weil ich dabei stand und
alles sah" .
22 Nach ,, verantwortlich" gestrichen: ,, Bisher
hatte sie mich vielleicht nur gefürchtet, aber
nicht meine Person, sondern nur den Zim-
merherrn, den fremden Menschen in mir,
und war wohl auch sehr schüchtern" .
23 Nach ,,zu klopfen" gestrichen: ,,aber da
fragte ich mich plötzlich, ob ich mir noch
halt gebieten könne, und antwortete mir so-
fort, daß ich es wohl könne" .
2* Ursprünglich: ,,ich küßte ihr das Gesicht
und die Füße: als ich ihr die Füße küßte".
2^ Ursprünglich: ,,Ich wäre beinahe aufgestan-
87
den und lueqgegangen: so unangenehm war
es mir aus Mitleid an einem so kleinen Kind.
Aber ich überwand dieses plötzliche Angstge-
fühl und blieb."
Im Petersburger Manuskript fehlt dasWei-
terevon: ,,Als alles zuEnde war . . ."bis zu den
Worten: ,,Es war der Augenblick einer wirk-
lichen Angst. . ." (Seite ^5, Zeile? von unten).
Dafür enthält dieses Manuskript folgenden,
das Lesen der ,,Beichte" unterbrechenden, in
den Moskauer Korrekturfahnen nicht enthal-
tenen Dialog zwischen Stawrogin und Tichon:
Hier endete das Blatt, und der Satz brach
ab. Da geschah etwas, was man nicht uner-
wähnt lassen darf.
Es waren im Ganzen fünf Blätter; Tichon
hielt das eine, das er eben zu Ende gelesen
hatte, und das mitten in einem Satze abbrach,
in der Hand, und die übrigen vier behielt
Stawrogin in seinen Händen. Auf einen fra-
genden Blick Tichons reichte ihm Stawro-
gin, der darauf schon gewartet hatte, sofort
die Fortsetzung.
,,Aber auch hier ist eine Lücke?" fragte
Tichon, sich das Blatt ansehend. ,,Ach, es ist ja
das dritte Blatt, und ich brauche das zweite."
88
,,Ja, das zweite Blatt, aber dieses Blatt . . .
Dieses Blattwird vorläufig von derZensur zu-
rückgehalten", antwortete Stawrogin schnell
mit einem verlegenen Lächeln. Er saß wäh-
rend der ganzen Zeit unbeweglich in einer
Ecke des Sofas und beobachtete mit fiebern-
den Blicken den lesenden Tichon.
,,Sie werden es später bekommen, wenn
Sie . . . sich als dessen würdig erweisen", fügte
er mit einer ungeschickten familiären Geste
hinzu. Er lachte, bot aber dabei einen jam-
mervollen Anblick.
,,Jetzt ist es wohl ganz gleich, ob ich das
zweite oder das dritte Blatt lese", versuchte
Tichon einzuwenden.
,,Wieso ist es ganz gleich? Warum?" rief
Stawrogin, in großer Erregung auffahrend.
,,Es ist gar nicht gleich. Ach so! Sie wollen
auf mönchische Manier gleich das Gemeinste
annehmen. Ein Mönch wäre wohl der beste
Untersuchungsrichter!"
Tichon musterte ihn stumm.
,,Beruhigen Sie sich... es ist nicht meine
Schuld, daß das Mädel so dumm war und
mich mißverstanden hat . . . Nichts ist ge-
schehen. Gar nichts!"
,,Gott sei Dank!" Tichon bekreuzigte sich.
89
,Jch müßte es lange erklären . . . hier . . .
hier liegt einfach ein psychologisches Miß-
verständnis vor ..."
Plötzlich errötete er. Sein Gesichtsausdruck
verriet das Gefühl von Abscheu, Qual und
Verzweiflung. Er brach jäh ab und ver-
stummte. Beide schwiegen und sahen ein-
ander mehr als eine Minute nicht an.
,,Wissen Sie was, lesen Sie lieber", sagte
er, sich mit den Fingern mechanisch den
Schweiß aus der Stirne wischend. ,,Und
schauen Sie mich dabei lieber gar nicht
an . . . Mir ist, als wäre es ein Traum . . . Und
bringen Sie mich nicht um den letzten
Rest meiner Geduld", fügte er im Flüsterton
hinzu.
Tichon sah schnell weg, ergriff das dritte
Blatt und las nun ohne Unterbrechungen zu
Ende. Aber auch das dritte Blatt fing mitten
in einem Satze an:
Es war der Augenblick einer wirklichen
Angst usw.
26 Im Original steht: „Nach Petersburg zu fah-
ren .
27 Nach „ertragen" gestrichen: „ich stand auf
und ging auf sie zu" .
28 Nach „niemand" gestrichen: „Über das Re-
90
sultat der ärztlichen Untersuchung habe ich
nichts gehört".
29 Nach ,, aus zudenken" gestrichen: ,,aber ich
vermag nicht zu entscheiden, ob mein Ent~
Schluß, wenn auch unbewußt, (natürlich un-
bewußt) mit meiner Erbostheit wegen der
niedrigen Feigheit, die sich meiner nach der
Geschichte mit Matrjoscha bemächtigt hatte,
zusammenhing. Ichglaube es wirklich nicht."
30 Nach ,,zur Zerstreuung" gestrichen: „und
weil es mir unerträglich war" .
=*i Nach ,, hilf losen" gestrichen : ,, zehn jährigen ' .
32 Nach ,,sagen" gestrichen: ,,Die Erinnerung
an die Tat selbst ist mir vielleicht auch jetzt
nicht ekelhaft. Vielleicht enthält diese Erin-
nerung etwas, was meinen Leidenschaften
auch jetzt noch angenehm ist".
33 Nach ,, Halluzination" gestrichen: „Ich habe
auch andere alte Erinnerungen, die vielleicht
besser sind als diese. An einer gewissen Frau
habe ich noch schlimmer gehandelt, und sie
ist daran gestorben. Ich habe im Duell zwei
Menschen getötet, die vor mir unschuldig
waren. Einmal war ich tödlich beleidigt wor-
den, habe mich aber am Gegner nicht ge-
rächt. Ich habe einen vorbedachten und ge-
lungenen Giftmord auf dem Gewissen, von
9^
dem niemand etwas weiß. Wenn es nötig sein
wird, werde ich über alles berichten" .
•"^4 Ursprünglich: ,,In der Schweiz war ich zwei
Monate später imstande, mich in ein junges
Mädchen zu verlieben, oder, genauer gesagt,
ich fühlte usw."
^^ So auch im Original.
•■^•^ Dieser ganze Satz gestrichen.
" Nach ,,kommen" gestrichen: ,,fügte er hin-
zu, als könnte er sich nicht mehr beherrschen,
und wieder in seinen früheren Ton fallend;
aber er lächelte gleich darauf traurig über
seine Worte".
38 Nach,, Er kam nicht weiter" gestrichen: „ ,Das
heißt, sie möchten, daß ich Ihnen schneller
meine Verachtung ausspreche' , sprach Ti-
chon sehr bestimmt zu Ende" .
■^9 Gestrichen: ,,Ich wunderte mich ein wenig
über ihre Ansicht von den anderen Menschen
und von der Gewöhnlichkeit eines solchen
Verbrechens" .
*o Nach ,,wieder nichts" gestrichen: ,,Stawro-
gin dachte gar nicht daran, wegzugehen; im
Gegenteil, er versank zeitweise in tiefe Nach-
denklichkeit".
*^ Nach ,,mit bewegter Stimme" gestrichen:
,,Was soll ich verzeihen? Was haben Sie mir
92
getan? Ach ja, es ist ja eine klösterliche For-
mel!" (Tichon:) ,,Was ich mit Absicht und
ohne Absicht begangen habe. Jeder Mensch,
der einmal gesündigt, hat gegen alle gesün-
digt, und jeder Mensch ist irgendwie an jeder
fremden Sünde schuld. Es gibt keine Ein-
zelsünde. Ich aber bin ein großer Sünder,
vielleicht noch größer als Sie" .
*2 Nach ,,Figur" gestrichen: „trotz der ganzen
Tragik" .
^3 Nach ,,allgemein sein" gestrichen: ,,beden-
ken Sie auch den Ausspruch des Denkers,
daß im fremden Leid stets etwas für uns
Angenehmes enthalten sei" . - ,,Ein richtiger
Gedanke." - ,,Aber Sie . . . Sie selbst ..."
^* Nach ,,die Hände küßte" gestrichen: ,,undalles,
was ich von meinem Temperament sagte
und alles übrige . . . ich verstehe nicht . . ."
*^ Nach ,,sagte nichts" gestrichen: ,,Ja, Sie ken-
nen die Menschen, d.h. Sie wissen, daß ich
es nicht ertragen werde" .
^^ Nach ,, einzutreten" gestrichen: ,,Wie sehr
ich Sie auch achte, aber ich habe gerade das
erwarten müssen. Nun, ich will Ihnen also
gestehen, daß mir in Augenblicken von Klein-
mut schon der Gedanke gekommen ist, mich
nach Veröffentlichung dieser Blätter in ein
93
Kloster zu verstecken, wenig stesns für eine
Zeitlang. Aber ich errötete dann sofort über
diese Niedrigkeit. Doch Mönch werden, das
war mir selbst in Augenblicken der kleinmü-
tigsten Angst nicht in den Sinn gekommen."
94
//
Die Zusammenkunft zwischen Stawrogin
und Tichon nach den Notizbüchern
Dostojewskijs
Der Bischof Tichon, dem Stawrogin seine
Beichte einhändigt, war von Dostojewski] ur-
sprünglich als eine der handelnden Personen im
großen, aus fünf Erzählungen bestehenden Ro-
man gedacht, über dessen Plan er im Jahre
1870 Maikow schrieb. Die zweite dieser Erzäh-
lungen, auf die Dostojewski] ,,seine ganze
Hoffnung" setzte, sollte in einem Kloster han-
deln, in das ein Knabe, der ein Verbrechen be-
gangen hat, von seinen Eltern gegeben worden
ist, ein ,,geistig hochentwickelter und verdor-
bener" Knabe (ein Dostojewskij gut bekannter
Typus, wie er selbst hinzufügt), ,,ein junger
Wolf und Nihilist", der später den wohltätigen
Einfluß des Bischofs Tichon erfährt. ,,In der
zweiten Erzählung soll der heilige Tichon der
Sadon'sche auftreten", schrieb Dostojewskij
Maikow, ,, selbstverständlich unter einem andern
Namen, doch er wird gleichfalls ein Bischof sein,
der sich zur Ruhe in ein Kloster zurückgezogen
hat. Vielleicht wird es mir gelingen, eine maje-
stätische, positive, heilige Gestalt zu schaffen.
95
Etwas ganz anderes als Kostanschoglo und als
der Deutsche (ich habe seinen Namen vergessen)
im ,Oblomow' , als Lopuchow oder Rachmetow.
Ich werde allerdings nichts schaffen, sondern
nur den echten Tichon darstellen, den ich längst
mit Wonne in mein Herz geschlossen habe."
Als später im Geiste Dostojewskijs der Plan
zu dem gleichfalls nicht ausgeführten Roman
,,Leben eines großen Sünders" entstand, so
sollte der Held dieses Werkes, ,,bald Gläubiger
und bald Atheist" in einem Kloster unter dem
Einflüsse der ,, majestätischen" und ,,heiligen"
Gestalt Tichons eine geistige Wiedergeburt er-
fahren und als ,,der größte unter den Men-
schen" in die Welt zurückkehren.
Als Dostojewski] schließlich endgültig beim
Plan zum Roman ,,Die Teufel" stehen blieb,
beabsichtigte er anfangs, darin einen bedeuten-
den Platz Tichon einzuräumen, dem Staw-
rogin (der Fürst) seine ,,Beichte" übergeben
sollte, die den Bericht Werchowenskijs von der
Petersburger Lebensperiode Nikolai Wsewolo-
dowitschs bedeutend ergänzte und abänderte.
(„Die Teufel", 1. Teil, V. Kapitel.)
In den im Moskauer Historischen Museum
aufbewahrten Notizbüchern Dostojewskijs fin-
den sich Hinweise auf eine Zusammenkunft
96
zwischen Statur ogin (dem Fürsten )und Tichon,
auf den Inhalt ihres Gesprächs und schließlich
auch auf das Verbrechen, das Stawrogin in sei-
ner ,,Beichte" gesteht.
So sollte in den ,, Auf Zeichnungen" Sta^vro-
gins folgende Stelle stehen:
„Das alles machte ich als verwöhnter Herr, als
ein müßiger, vom Boden losgerissener Mensch.
Ich gebe zwar zu, daß die Hauptursache doch
in meinem bösen Willen lag und nicht in dem
Milieu allein: natürlich verübt niemand solche
Verbrechen. Aber alle vom Boden Losgerissenen
tun dasselbe, wenn auch in kleinerem Maßstabe.
Viele merken ihre Gemeinheiten gar nicht und
halten sich für anständig."
Tichon, der in dieser Notiz als ,,der Bischof"
auftritt, rät, diese Stelle ,,auszuschließen" , wor-
auf Stawrogin in einem unzufriedenen Ton
erklärt: ,,ich bin kein Literat".
Diese Stelle fehlt in der ,, Beichte" . Der Ge-
danke, daß ,,viele ebenso sündigen, aber in
Frieden mit ihremGewissen und inRuhe leben",
wird hier nicht von Stawrogin, sondern von Ti-
chon ausgesprochen, ebenso wie Tichon und
nicht Stawrogin den Gedanken äußert, daß der
moralische Fall des letzteren das Resultat der
Losgerissenheit vom Boden sei.
7 97
In den Notizen Dostojewskijs finden sich
auch Hinweise darauf, warum Stawrogin sich
entschlossen hatte, seine Aufzeichnungen der
Öffentlichkeit zu übergeben.
,,Tichon sagt: man muß auf Erden glücklich
sein.
„(Fürst:) Ich bin ein müßiger Geist und
langweile mich. Ich weiß, daß man auf Erden
glücklich sein kann (und muß), und daß es et-
was gibt, worin das Glück ist, aber ich weiß
nicht, was es für eine Sache ist. -Nein, ich ge-
höre nicht zu den Enttäuschten. Ich glaube, ich
gehöre zu den Verdorbenen und Müßigen.
,,Der Fürst zu ihm: ich will meine Kraft er-
proben und das von dem Mädchen erzählen."
Wie man aus der Beichte Stawrogins ers3hen
kann, verübt er sein Verbrechen tatsächlich
,,aus Langweile" . Dostojewski] begnügt sich
nicht mit diesem Geständnis Stawrogins im
Texte und versucht am Rande der Korrektur
dieses Motiv noch durch folgende Worte zu ver-
stärken:
,,Ich sage es offen: manchmal war ich gar
nicht weit vom Gedanken, nach Sibirien ver-
schickt zu werden. Vor allen Dingen - lang-
weilte ich mich. Ich langweilte mich so, daß ich
mich, wie ich glaube, aufhängen hätte können.
98
Ich erinnere mich, daß ich mich damals viel
mitTheologie beschäftigte. Dies zerstreute mich
allerdings ein wenig, aber dann wurde es mir
noch langweiliger,"
In einer der Notizen Dostojewskijs findet sich
auch eine Erklärung dafür, daß Stawrogin im
letzten Augenblick doch auf die Veröffent-
lichung seiner ,,Beichte" verzichtet:
„Der Bischof sagt, der Katechismus des Glau-
bens sei gut, aber der Glaube ohne Tat sei tot
und verlange nicht die höchste Tat, sondern
auch noch die schwierigste moralische Arbeit.
D. h.: Nun, Herr, bist du dazu imstande? Und
der Fürst gesteht, daß er ein verwöhnter Herr
sei, behauptet gelogen zu haben, und das Re-
sultat ist Uri" (d.h. der Gedanke, mit Dascha
in die Schweiz zu gehen).
Aus dem hier abgedruckten ,,neunten Kapi-
tel" ist zu ersehen, daß es zwischen Tichon und
Stawrogin zu einem Gespräch über ,,moralische
Arbeit" gar nicht kommt; auch ist das Motiv,
warum Stawrogin Tichon verläßt und seine Auf-
zeichnungen nicht veröffentlicht, ein ganz an-
deres.
In den Notizbüchern Dostojewskijs finden
sich noch folgende Hinweise auf die Zusam-
menkunft zwischen Tichon und Stawrogin:
7* 99
,,Facit. Stawrogin als Charakter.
Alle edlen Anwandlungen bis zu unge-
heuren Extremen (Tichon) und alle Lei-
denschaften (bei grenzenloser Lang-
weile). Er stürzt sich auf die Pflege-
tochter* und auf die Schönheit.** Die
Schönheit hat er wirklich verachtet und
nicht geliebt, ist aber plötzlich in einer
(trügerischen und vorübergehenden
aber grenzenlosen) Leidenschaft ent-
brannt und sieht sich, nachdem er das
Verbrechen verübt, enttäuscht. Er ent-
ging der Strafe, erhängte sich aber
selbst."
An einer anderen Stelle finden wir:
,,Er gesteht Tichon, daß es ihm eine
Freude sei, sich über die Schönheit lu-
stig zu machen."
In Wirklichkeit macht sich Stawrogin über
Jelisaweta Nikolajewna gar nicht lustig und
erwähnt sie überhaupt nur ganz flüchtig in
der ,,Beichte" und in seinem Gespräch mit
Tichon.
Es findet sich auch ein Hinweis auf das von
Stawrogin verübte Verbrechen:
* Darja Pawlowna, Dascha.
** Jelisaweta Nikolajewna.
lOO
„Das Geheimnis von der Heirat weiß nie-
mand außer der Pflegetochter und der Schön-
heit.
„Das von der Kleinen weiß Tichon allein."
Schließlich findet sich auch ein Hinweis auf
die Stelle im Roman, wo die Begegnung zwi-
schen Stawrogin und Tichon einzuschalten
wäre :
„Stawrogin rät der Pflegetochter, ,S. T .* zu
verlassen und mit ihm in die Schweiz, nach
Uri zu fliehen. Das war noch früher. Hier pas-
siert das Mißverständnis mit Step. T-sch,** der
sich pikiert fühlt, weil ihm angeblich Hörner
aufgesetzt seien . . . und die Pflegetochter geht
zum Bruder, Schatow, über. In diesem Moment
(die Schönheit zeigt Eifersucht) teilt er ihr mit,
daß Stawrogin mit der Lahmen verheiratet ist.
Jene gerät in Verzweiflung, weil alle ihre Hoff-
nungen zusammengestürzt seien (denn sie ver-
mutet, daß der Fürst in sie verliebt sei; sie selbst
ist aber in ihn bis zum Wahnsinn verliebt);
sie lacht über die Pflegetochter, läuft weg und
gibt sich dem Fürsten hin. Gleich darauf folgt
die Ermordung der Lahmen.
„(Er ist bei Tichon gewesen.)"'
* Stepan Trofimowitsch.
'^'*' Der Vater Werchowenskijs.
lOI
Das sind die Notizen, aus denen später die
hier abgedruckten Kapitel „Bei Tichon' ent-
standen sind, die aus unbekanntem Grunde im
Roman ,,Die Teufel" fehlen. Einige Details
der ,, Beichte" Stawrogins hat Dostojewski]
später für die Gestalt Werssilows im ,,Halb-
wüchsigen" verwendet.
W . Pritsche
I02
INHALT
Vorwort 5
Die Beichte Stawrogins ii
Anhang 1 83
Anhang II gS
Beilagen
Wiedergabe zweier Korrekturfahnen mit Ein-
tragungen Dostojewskijs
J«-t
- •" A o
J o o «=:
3 O ^O O
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3327
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Dostoevskii, Fedor Mik-
hailovich
Die Beichte Stawrogins